„Wer sich selbst und andre kennt/ Wird auch hier erkennen:/ Orient und Occident/ Sind nicht mehr zu trennen“: In seiner 1819 erschienenen und 1827 erweiterten Gedichtsammlung Westöstlicher Divan veröffentlichte Johann Wolfgang von Goethe eine breite Palette an kürzeren, lyrischen Gedichten, seiner klassischen Ästhetik entsprechend in eine strenge, aber zumeist fließend-unbemühte metrische Form gefasst. Teils im lockeren Paarreim spricht das lyrische Ich sich für die Vereinigung, ja das gleichberechtigte Nebeneinander unterschiedlichster Kulturen, so auch des Islams, aus.
Im offenen Geist und den gelegentlich auf Sentenzen heruntergebrochenen Lebensweisheiten dieser Sammlung tun sich Parallelen zum ethisch revolutionären Entwurf eines menschlichen Liebeslebens in Goethes Frühwerk Stella. Ein Schauspiel für Liebende auf, das in seiner Urfassung von 1776 nicht auf die Bühne durfte. Der jugendliche Stürmer und Dränger erwies sich in seiner Andeutung einer Ménage-à-trois als Nachwuchsautor, dessen Ideen zu früh, zu freigeistig und ethisch entfesselt waren. Das bürgerliche Publikum zog die rote Karte für dieses szenische Too much!
Regisseur Stefan Maurer hat sich Goethes dramatischer Vorlage am Schauspiel Wuppertal in einer Koproduktion mit dem TNL angenommen und den Schluss der ersten mit jenem der zweiten Fassung vermischt: Ein Publikum, das gegen eine offene Dreiecksbeziehung Sturm lief, verdaute den Selbstmord als Flucht aus dem Dilemma offensichtlich leichter. Make war, not love.
Zur Handlung: Cäcilie und Tochter Lucie erscheinen in einem Gasthaus im Bestreben, in die Dienste von Stella zu treten, die vor drei Jahren von ihrem Mann Fernando verlassen wurde und noch dazu dem Tod ihres Kindes nachtrauert. Cäcilie, die auch seit Jahren unter einer Trennung leidet, muss erkennen, dass ihr Geliebter kein geringerer als eben dieser Fernando ist. Ein unentwirrbares Gefühlschaos bricht aus und niemand weiß wohin. Die drei treffen an Ort und Stelle aufeinander. Stehen saubere Trennungen in Aussicht, schlägt es einen verzichtend in die Flucht? Oder bildet ein Dreieck drei Ecken, die untrennbar sind?
Bevor Stella (Nora Koenig) überhaupt erst einmal die Bühne betritt, liefern sich der Gastwirt (Germain Wagner), Fernando (Thomas Braus) und Rebekka Biener als Lucie einen Schlagabtausch an Lebenseinstellungen, die sich um die Möglichkeit der Liebe und ihrer Freiheit ranken. Insbesondere die junge Lucie zelebriert ihr Frausein als Ausdruck betonter Unabhängigkeit: „Denn wenn ich mich einmal nach jemandem richten soll, so muß Herz und Wille dabei sein; sonst geht’s nicht (…) Ihr Herren dünkt euch unentbehrlich; und ich weiß nicht, ich bin doch groß geworden ohne Männer.“
Die Erwägung einer Flucht aus der in Stein gemeißelten Monogamie wird von der Regie und von Bühnen- wie Kostümbildner Luis Graninger auf mehreren Ebenen unterstrichen. Seitentreppen führen nach hinten ins dunkle Irgendwo von Stellas Gemächern. Dazwischen hängt ein blaues Tuch von der Oberbühne herab, das sich mit orangenen und hellgrünen Blumenmotiven über dem Bühnenboden ausbreitet. Das Farbmuster weckt Erinnerungen an die Siebziger und ihre losgelöste Sexualmoral. Unterstützt werden diese Töne durch das fingierte Anzünden eines Joints und wilde Tänze auf dröhnende Beats. Zum Auftritt der seit drei Jahren zurückgezogen lebenden Stella sinkt der erste Vorhang und ein zweites Tuch mit blasseren Blüten tritt zum Vorschein: ihre Einsamkeit. Die erneut eruptierende Lust auf den Rückkehrer Fernando findet ihren Ausdruck im Liebesspiel unter diesem Stoff. Wird sie sich mit ihm noch einmal in die Flowerpower unbekümmerter Jugendjahre wagen?
Doch das Umherirren zwischen Dürfen und Wollen, die Frage nach dem Wer mit Wem, finden ihren Ausdruck in einer wiederholten, zuckenden, spastischen Choreografie auf Club-Musik. Hier empfindet ein jeder seine Sehnsucht, eine jede ihre Lust, doch Feigheit, Misstrauen und das eigens auferlegte Korsett bieten noch keine Peilung. So ist es der Gastwirt, dem die Regie wiederholt Goethes Verse aus dem Westöstlichen Divan in den Mund legt, um mit erhobenem Zeigefinger zu mahnen, Mut zu- und Verfehlungen anzusprechen, Denk-register zu sprengen.
Allerdings steckt die Krux in diesem Kunstgriff: Die mit verschmitzter Mimik übermäßig heiter eingeworfenen Weisheiten des Gastwirts lassen Fernandos liebestrunkene Schwüre und Verzweiflungsverse stellenweise zu Kitsch verkommen. Was in Goethes Original ernst, ja tragisch klingt, büßt im Kontrast der Quellen und Stile an Ernsthaftigkeit ein. Fernandos Verzweiflung verkommt in diesen Momenten zum rührseligen Pathos. Goethes Frühwerk ist damit kein Dienst erwiesen.
Die Inszenierung schließt am Schluss originell: Während Fernando sich am Ende abwechselnd erschießt, erschossen wird und wieder hochkommt, und alle in gemeinsamer Lust vor die erste Publikumsreihe treten, schmeißt der Kellner den Faust in den Ring und beschwört den reinen Genuss im Moment: „Werd ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! du bist so schön!“.
Im Rückblick inszeniert Stefan Maurer Goethes Stella als Liebesspiel voller Zerrissenheit und Befreiung. Die satirischen Elemente zeigen ihre Wirkung, gliedern sich thematisch ein, dämpfen den tragischen Kern von Goethes Sprache jedoch zu sehr.