Einmal angenommen der Westen sei weiß, fortschrittlich und zivilisiert; der Süden dunkel, zurückgeblieben und kannibalisch. Stopp! Rassistische Klischees? Nun, bei dieser vorherrschenden europäischen Sicht der angeblich moralisch erhabenen weißen Europäer setzt Mpumelelo Paul Grootbooms’ Tief in Afrika ein und greift in die Klischeekiste der westlichen Zivilisation, um diese moralische Überlegenheit knallhart zu brechen.
Wie das geht? Ganz einfach: Man nehme einen Tisch mit einem Schneidebrett, eine Elektrokochplatte, ein paar Kochtöpfe, einen Stuhl. Das war’s! Das Bühnenbild in Tief in Afrika gleicht tatsächlich dem einer Kochshow, doch nicht Jean Asselborn wird witzelnd hereinschlappen, sondern Steve Karier. Der Schauspieler, der mit der blutigen Performance das Monodrama-Festival eröffnen wird, schleppt den Tisch eigenhändig heran und fängt sogleich an, beflissen Gemüse zu zerhacken, indes er die Geschehnisse schildert.
Die Geschichte der Entführung einer Touristengruppe durch islamistische Rebellen wird damit aus der Retrospektive eines Einzelnen erzählt; desjenigen, der den Alptraum überlebt hat und traumatisiert auf das blutige Gemetzel zurückblickt. Fassungslos wird Karier die Geschichte der Zerfleischung seiner Kameraden rekapitulieren und dabei sukzessive in einen Wahn abgleiten.
In dem klischeeüberfrachteten Storytelling über „den schwarzen Kontinent“ (Malaria, Ebola, Seuchen, Korruption und Dunkelheit) erzählt Karier von sagenhaften Kannibalen-Geschichten und schneidet dabei Lauch und Möhren in Scheiben, um retrospektiv festzustellen: „Die Welt, die wir uns erobert haben, erweist sich als Lügengerüst!“ Sein anfangs noch etwas atemloser Monolog über die europäische Welt, in der Nick-Negerchen in Kirchen und exotischen Wohnzimmern ihren Platz haben und die erlebte Entführung, erfüllt, wie er selbst sagt, den Zweck „die Seele zu reinigen!“
Schon als er, der letzte Überlebende des Gemetzels in Afrika, ankam, ward seine stereotype Sicht aufgeweicht, angefangen beim Empfang am Flughafen durch „Rambo“. Karier entlarvt spielend die europäische Sicht auf „den schwarzen Kontinent“ und die noch immer vorherrschende koloniale Wahrnehmung zwischen pittoresk-exotisch und unheimlich.
Doch die Hölle, das sind am Ende die Anderen! Beklemmend wird Karier den Überlebenskampf der Gruppe schildern, deren Figuren nicht minder prototypisch erscheinen: Ein Deutscher, Günther Schmidt, Aaron, ein schmächtiger Israeli, eine blonde Schwedin, ein hünenhafter Libanese, Hassan und ein fetter Amerikaner (Donald, wer sonst?) werden um ihr Überleben feilschen. In erbarmungslosen Bildern spielt Karier, die Überlebensstrategien der Einzelnen nach und performt ausdrucksstark, wie die Lebenden die Toten zerfleischen. Die Knochenberge wandern in die Ecke, und durch eine oberflächliche Zeremonie wird den Geopferten symbolisch „ihre letzte Würde zurückgegeben“, um per Losverfahren oder Ziehung von Fäden das nächste Opfer auszuwählen. Wer wird den Kürzeren ziehen? Die kollektive Beratung über die schmerzloseste Art den Nächsten umzubringen, sowie das Feilschen um Organe, lässt in menschliche Abgründe blicken. „Für einen Menschen, der in zivilisierten Verhältnissen groß geworden ist, gibt es wohl nichts Schlimmeres, als seinen elementaren Grundbedürfnissen nachzugeben“, sagt Karier lakonisch, nicht ohne Anekdoten und Querverweise (etwa auf King Lear) einzubauen. Zu den Klängen von Nancy Sinatras Bang Bang tun sich so zersetzende menschliche Abgründe auf.
Die Versuche, das eigene Leben zu retten, wirken mitunter grotesk, etwa, wenn Donald, das Krokodil, noch in seiner Todesstunde einen Wahlkampf veranstalten und sein Leben durch Bestechung retten will. Doch mit Steve Karier wird nicht der im Darwin’schen Sinne Anpassungsfähigste überleben, sondern der, der die besten Geschichten erzählen kann. Dem Wahnsinn nah wird Karier vor seiner Rettung mit einem langen Küchenmesser an sich selbst herumsäbeln und in Froschposition die Frage stellen, ob man nach diesen Taten der Entmenschlichung überhaupt noch Teil der Menschheit sein kann. Am Ende des Abends steht der Gulaschtopf bereit. Doch nach dem blutigen Gemetzel dürfte auch dem Letzten die Lust auf Fleisch vergangen sein.
Karier liefert in dem Ein-Mann-Stück Tief in Afrika eine starke, mitreißende Performance, die das Ausmaß (un)menschlicher Grenzüberschreitungen deutlich macht. Die über anderthalb Stunden lange, brutale Aufführung erweist sich für weniger Hartgesottene als Anleitung zum Veganismus.