Hotel Grand Palace, „Mondorf-läss-Bänns“: Hier werden im Mai 1945, im Vorfeld der Nürnberger Prozesse, die zentralen Schergen des Nazi-Regimes verhört. Unter der Verantwortung des US-Militärs Colonel Burton C. Andrus führten John Dolibois und Kenneth Hechler die Befragungen bis zur Überführung der Gefangenen nach Nürnberg. 86 Insassen zählte das Gefangenenlager Ashcan. Auf einige wenige, neun an der Zahl, konzentriert sich die von Anne Simon, Ingo Waszerka und Sarah Rock adaptierte Textvorlage von Ouri Wesloy.
Der stehenden Schwüle im Theaterraum des TNL am Premierenabend zum Trotz inszenierte Anne Simon ihre Produktion namens Codename: Ashcan. Mit Verhören von Hermann Göring (Steve Karier), Franz von Papen (Ulrich Kuhlmann), Julius Streicher (Georg Marin), Hans Frank (Fred Frenay), Wilhelm Keitel (Marco Lorenzini), Karl Dönitz (Martin Olbertz) und Walter Warlimont (Thomas Wißmann) stellt uns das Ensemble eine Vielzahl an Haltungsvarianten vor, die allesamt auf ihre individuelle Weise zu den Schalthebeln des Dritten Reiches führten und nun ebenso individuell ihren Richtern begegnen.
Anouk Schiltz schöpft mit dieser Produktion räumlich aus den Vollen. Unmittelbar an die vordere Reihe des Zuschauerraums grenzt ein massiver Holzschreibtisch mit juristischen Nachschlagewerken, Leseleuchte und Telefon. Mit Kreide werden manche Aussagen auf die Platte gekritzelt. In der Mitte der Bühne ragen neun Podeste unterschiedlicher Höhen hervor. Sie dienen gleichsam als Zellen, Präsentierteller und Metapher vergangener Polit- und Militärhierarchien. In der Tiefe sind meterhohe Drehtüren in weiße Wände eingefasst.
Zur Einweisung bewegen sich die Gefangenen je nach Persönlichkeit mal kauzig, mal trotzig mit Lederkoffer in die Hotellobby, werden in der Folge individuell verhört und bieten mit den Auszügen von Originaltexten einen teils zynischen, bisweilen erbärmlichen Einblick in die Denk- und Verteidigungsstrukturen ihrer jeweiligen Sprecher.
Herausragend sind in diesem Moment sicherlich die rassistischen Auswürfe des Julius Streicher aus dem Munde Georg Marins. Auch weiß Ulrich Kuhlmann die herablassend spöttische Haltung eines Franz von Papen wirksam zu mimen. In der Tat greift die Regie auf ein Schauspielerensemble zurück, das der geistigen Verderbnis dieser Vorstufe zu den Nürnberger Scharfrichtern eine greifbare Form verleiht. Der Zuschauer vermag es, sich in diese Abgründe hineinzuversetzen und wird sich darüber klar, dass sich das Geschehene vor der eigenen Haustür ergab.
Ein besonderes Augenmerk sei jedoch auf Steve Karier als Hermann Göring und Martin Olbertz als Admiral Karl Dönitz gelegt. Beide Figuren verkörpern einen besonders starken Kontrast in persönlicher Haltung und Reaktion. Steve Karier mimt „den dicken Göring“ als schauspielernden Egomanen und Morphiumsüchtigen, der jede noch so pervertierte Kulisse schamlos ausnutzt, um sich selbst in Szene zu setzen. Es scheint, als habe er es in seiner nahezu sonnenköniglich gebärdenden Selbstherrlichkeit weniger auf den Faschismus abgesehen, sondern sehr viel mehr auf apolitisches Rampenlicht. Steve Karier verkörpert dieses Spezifische an seiner Rolle mit ebenso viel Freude wie Olbertz den Admiral Dönitz. Dieser versucht in einer sich stimmlich herrlich überschlagenden Blauäugigkeit und angsterfüllter Charakterlosigkeit, sich seiner Verantwortung zu entziehen: Mit hoher Stirn und hagerem Auftritt fern von Stolz und Haltung, generiert er Ausreden und zeugt von Kadavergehorsam im Sekundentakt, er, der trotz Kapitulation noch immer auf den militärischen Grad des Admirals besteht. Mit dieser Charakterlosigkeit schafft es Dönitz sogar, sich seine Komplizen zum Feinde zu machen.
Die Typisierung des Ewiggestrigen wird am Ende zum Teil aufgehoben, als Simon die Gefangenen in wiederholten Achten durch die Drehtüren spazieren lässt, als seien sie von dem Gesehenen und Gehörten, ja von der Darstellung ostpolnischer KZ-Auflösungen innerlich aufgewühlt und nachdenklich geworden. Zwar erlaubt sich die Inszenierung in einigen Fällen jene Stereotype des Nazi-Tölpels, über die so mancher US-amerikanische Schinken bis in die 90-er hinein selten hinauskam, insgesamt jedoch liefert Codename: Ashcan eine aufschlussreiche, sehr direkte, für Anne Simon übrigens überaus klassische Autopsie nationalsozialistischen Gedankenguts. Dabei ist der Begriff der Autopsie sehr bewusst gewählt, denn diese Auswüchse verdorbener Ideologie sind nicht nur dem Tode geweiht, sie entpuppen sich in ihrer misanthropischen Genese als Verwesungsprozess per se. Dass am Ende festgestellt wird, diese Denkarten entsprängen nicht nur dem Hirn eines Psychopathen, sie seien vielmehr das Ergebnis des Banalen und Rücksichtslosen, wird von den verunsicherten Ermittlern diagnostiziert. Verweise auf Marine Le Pen und den stupiden Trumpismus mögen den einen oder anderen Zuschauer ob der zweifelhaften Vergleichbarkeit allerdings befremdet haben. Ob übertrieben oder nicht, das mag politische Ansichtssache sein.