Ganze zwei Mal bricht mir an diesem Abend im Studio des Grand Théâtre ein reflexartiges, deutlich vernehmbares „What the f**“ heraus. Peinlich ist es mir nur für wenige Sekunden, denn so mancher Sitznachbar lässt sich zum selben Ausruf verleiten, Gestöhne macht sich breit. Ein weiteres „putain de merde“, vier Plätze weiter rechts. Im Akkord liefert die belgische Tanz- und Projektgruppe Peeping Tom Eindrücke des Agitativ-Tänzerischen, des Szenischen, Momente und Tonkreationen, die einem den Atem stocken lassen.
Nach ihrem Vader (Père) 2014 und vor dem anstehenden Kinderen (Enfants) widmet sich das Team um Regisseurin und Choreografin Gabriel Carrizo in dieser Familientrilogie der Motivik rund um die Mutter, teils inhaltlich zusammenhängend, teils auf Eindrücke beschränkt. Behutsam schiebt sich ein Lichtkegel Richtung Vitrine, hinter der eine betagte Frau, in ihrem Sarg aufgebahrt, sekündlich schwere Atemzüge ins Mikrofon röchelt. Bei jedem Einatmen leuchtet ein rotes Licht auf und macht die Sicht auf die Familie frei, die die Sterbende begleitet, bis der Sarg verschlossen und abtransportiert wird. Dazu gesellt sich ein Elternpaar, das auf surreale Weise und hartnäckig auf den regelmäßigen Besuch der eigenen Tochter besteht, die im Inneren eines Brutkastens dahinvegetiert und von Geburt bis zum Tode im Glaskubus wächst. Geführt wird der Kasten von einer schwangeren Krankenpflegerin mit widernatürlich langen, blutbeschmierten Unterarmen, die sie schlaksig um sich schwenkt.
Dies sind nur zwei Momentaufnahmen, die von einer derartigen atmosphärischen Dichte zeugen, dass das, was in einem Zeitalter des Anything goes nicht mehr möglich scheint, bei Moeder erreicht wird: Diese Produktion schockiert, sie erregt leichten Ekel. Schock und Ekel sind jedoch keinesfalls Selbstzweck wie in billigen Splatter-Schinken der 80-er und Carrizo beschränkt sich auch nicht auf sie. Moeder führt den Zuschauer ein in die vielschichtigen Empfindungswelten, die sich mit der Mutter-Motivik verbinden lassen: Verlust, Liebe, Hochachtung, Erinnerung, Bedingungslosigkeit, Organik.
Bis zur morbiden Zumutung wird diese Galerie mütterlicher Konnotationen (vor der Kulisse eines Museums, behangen mit einer Ahnengalerie) insbesondere durch Tanz und Ton verstärkt. Schwer beeindruckt die Symbiose beider Disziplinen, wenn Maria Carolina Vieira ihren Körper auf dem Boden schwimmend zu fiktiver Wassermasse bewegt und die Tontechnik sich hinter dem Glasfenster mit Wasserschüssel und etwaigem Gerät daran versucht, jedes einzelne Planschen und Plätschern zeitgenau nachzuahmen.
Eurudike de Beul schlägt in markdurchdringendem Tone auf die Taste eines Klaviers. Dazu zucken Hun-Mok Jung und Brandon Lagaert wie die Perlen auf einer dröhnenden Lautsprecher-Membran zum imitierten Herzschlag. Die tänzerischen Darbietungen – so sei hier laienhaft erklärt – widersetzen sich jeder Vorstellung eines klassischen Tanzes und werden polarisieren. Tanz ist hier oberflächlich ein Zucken, ein Etwas an Gelenkaktivitäten wider jegliche physiologische Natur. Das Ensemble um Peeping Tom schafft es jedoch in den tieferen Schichten, der grotesken, abartigen und befremdlichen Muttermotivik ein anatomisches Leiden zu entsprechen. Die Choreografie wird mit Sinn gefüllt.
Im Zusammenspiel mit Körper und Objekt beginnt plötzlich ein Herz, an der Wand eingerahmt, zu bluten. Die Putzfrau wischt die Masse weg. Aus weiteren Gemälden zieht Marie Gyselbrecht den Kopf eines Mannes aus der Leinwand heraus. Er beißt ihr geradewegs in die Faust. Erinnerung, Familiengeschichte nehmen so organische, sinnliche Form an.Was Peeping Tom mit Moeder geschaffen hat, ist einzigartig. Die 80 Minuten sind definitiv nichts für schwache Nerven. Ja, dieser dramaturgischen Perversion muss man sich öffnen können. Nie völlig humorfrei, ist Moeder die Verkörperung von Liebe, Sehnsucht und innerer Revolte mit den pervertierten Mitteln von Physis, Spiel und Ton. Ästhetik unter präziser Regie. Genial!