Die Geschwisterbeziehung ist ein Mythos, den Literatur und Theater immer wieder neu als Spiel von Nähe und Distanz, Liebe und Rivalität aufleben lassen. Meist sind es toxische Verhältnisse, in denen der oder die eine nicht mit und nicht ohne den anderen sein kann. Die Zwillinge Pollux und Castor sind wie die Söhne des Zeus aneinandergebunden. Die Schwestern Marguerite und Marie waren von klein auf Konkurrentinnen. Die Träumer Pierre und Isabelle lieben sich so innig, dass sie gemeinsam durchbrennen werden ... Es sind Beziehungen, die durch Neid und Konkurrenz geprägt sind und zugleich durch Abhängigkeit(en), die ein Leben lang bestehen. Regisseurin Carole Lorang und Mani Muller (Text) haben sich für Dunkle Spiegel keinen leichten Stoff vorgeknöpft. Mit Rekurs auf Kain und Abel und deutliche Anleihen aus der griechischen Mythologie zeigen sie mit sechs Figuren und drei gänzlich unterschiedlichen Geschwisterpaaren, wie vielfältig und zerstörerisch diese Beziehungen sein können und wie frühkindliche Erlebnisse ein Leben lang nachwirken.
Unheimlich wirkt die eineinhalbstündige Inszenierung im Kapuzinertheater dank eines beeindruckenden Licht- und Tonspiels und zieht auch musikalisch in den Bann. Geisterhafte Stimmen und Gemurmel ertönen aus dem Off und legen sich als unruhiger Sound über das gesamte Stück. Das Bühnenbild: Ein Wohnzimmer – zwischen Barock und Moderne, ein Divan sowie ein überdimensionales, gefülltes Weinregal. Während Pierre und Marguerite kultiviert die Weinkelche schwenken, stolpern Pollux (Franz Leander Klee) und Castor (Lorenz Klee), auch im wahren Leben ein Geschwisterpaar, unbedarft über die Bühne und mimen die deutschen Unterschichten-Prolls.
Die dank Muttersprachlern gelungene zweisprachige Inszenierung erweist sich so in erster Linie als Clash der Kulturen und sozialen Milieus: Hier die tölpelhaften deutschen Ruhrpott-Prolls, dort die französisch kultivierten Geschwisterpaare aus bourgeoisen Verhältnissen. Das ist bisweilen amüsant, mitunter jedoch hart am Rande des Slapsticks, etwa wenn Castor Französischstunden bei Marguerite (Bach-Lan Lê-Bà Thi) nimmt und einen Camembert unbeholfen als „Come on Bert!“ ausspricht. Plumper deutscher Trampel trifft auf blasierte Französischlehrerin und Frau von Welt – eine Konstellation, die ihre Wirkung nicht verfehlt und einen in der Tat auflachen lässt, jedoch irgendwann ins Groteske umschlägt.
Nuancierter hingegen die Geschwisterbeziehungen zwischen Isabelle (Leila Schaus) und Pierre (Ali Esmili) sowie zwischen den Schwestern Marguerite und Marie (Véronique Nosbaum), die wie durch eine unsichtbare Nabelschnur ein Leben lang aneinander gebunden scheinen. Letztere überzeugt vor allem durch ihre starke Interpretation (Sopran) der Schumann-Lieder Abendlied und Dein Angesicht. Für eine sinnliche Abwechslung sorgen auch Diaprojektionen, die Aufnahmen der Geschwister als Kleinkinder oder ein altes Mansardenhaus, Zankapfel zwischen den Geschwisterpaaren, zeigen.
Die Erinnerungen von Isabelle an ihre Kindheit sowie die verzerrten und gegensätzlichen, bruchstückhaften Vergangenheitsfetzen der Schwestern Marguerite und Marie machen zudem klar, dass eine autoritäre Erziehung, Bevormundung und frühkindliche Traumata ein Leben lang nachwirken. Der Blick in den Spiegel ist die Begegnung mit der Vergangenheit und dem Selbst. Was am Ende zurückbleibt, sind lächelnde, unschuldige Kindergesichter auf vergilbten Polaroid-Fotografien und ein diffuses Unbehagen. Dunkle Spiegel wühlt auf und rührt am eigenen seelischen Knacks. Die Inszenierung beeindruckt musikalisch wie schauspielerisch durch hohes Niveau.