Als aufklärende „Schauprozesse“ sollten die Nürnberger Prozesse, bei denen einige Hunderte Hauptkriegsverbrecher des NS-Systems verurteilt wurden, in die Geschichte eingehen. Doch während diese öffentlichen Verhandlungen von 1945-49 vor dem internationalen Militärgerichtshof bekannt sind, ist ein Teil des Vorlaufs, der sich in Luxemburg im verschlafenen Kurort Mondorf zutrug, kaum an die Öffentlichkeit gelangt:
In Bad Mondorf versammelte die US-Armee im Mai 1945 eine ganze Reihe überlebender Nazigrößen, darunter Karl Dönitz, Robert Ley oder Julius Streicher – an ihrer Spitze Hermann Göring – im Luxushotel „Palace“. Sie waren dort gut gesichert interniert und wurden regelmäßig zur Vergangenheit und ihrer persönlichen Schuld befragt, ihre Aussagen dienten später der Anklage in Nürnberg.
Die jungen Offiziere, die die Verhöre durchführen, unter ihnen der spätere amerikanische Botschafter in Luxemburg John Dolibois, waren unerfahren, heißt es. Auf Basis der bis dato unter Verschluss gehaltenen Original-Dokumente aus der „National Archives and Records Administration“ (Nara) und erhaltener Verhörprotokolle wie insbesondere denen von Dolibois zeichnet Anne Simon mit dem Stück Codename Ashcan, eine Adaptation des Textes von Ouri Wesoly, die groteske Nachkriegssituation in dem ehemaligen Luxushotel nach: zwischen Ängsten, Uneinsichtigkeit und Bereuen der Nazis und Erstaunen über die Beschuldigungen und Enthüllungen. „Ein permanentes Oszillieren zwischen Faszination und Ekel der amerikanischen Offiziere“, heißt es in der Pressemappe.
„Das war ja bereits Theater und auch eine große Show“, so die Regisseurin Anne Simon zur historischen Ausgangssituation ihres Stücks. Am Anfang stand die Idee des jüdischen belgischen Filmemachers Willy Perelsztejn, der den 2. Weltkrieg selbst versteckt überlebt hat, einen Film über die Geschehnisse in „Ashcan“ zu drehen. Ashcan, l’histoire méconnue de la première prison des dirigeants nazis wird Anfang 2018 zu sehen sein. Die Idee zum Film sei im Grunde über den CNA und den Filmemacher entstanden, erzählt Anne Simon. „Doch außer ein paar Fotos, die bekannt sind, gibt es nichts“. Wie macht man aber einen Dokumentarfilm ohne Bildmaterial? Ein Theaterstück schien die geeignete Form einer bebildernden Erzählung, die sich der damaligen Situation und den Personen annähert. „Wir verfolgen den Theaterprozess zur Auseinandersetzung mit den Figuren – die als quasi dokumentarische Elemente mit in den Film einfließen“, so Simon. Die Kamera hat die Proben begleitet. So entsteht – auch im Wissen um den Dreh – eine Präsenz, die sonst nicht existiert. Eine etwas „verdrehte Idee“, gibt Simon zu, denn der Dokumentarfilm folge so den Schauspielern, den Dramaturgen und sie wie sie sich über die Konstellation und die Figuren austauschten...
Es bleibt jedoch Theater, das heißt eine künstlerische Annäherung. „Ich verliere die Zuschauer unterwegs, wenn ich mit Daten herumschmeiße. Das bringt nichts“, so Simon. Ihr geht es in dem Stück um eine Grundstimmung und um das Prinzip dieser Figuren. Wie kann so ein System wie der Nationalsozialismus überhaupt funktionieren? Was sind die Ausreden der Beteiligten? Wie werden Gräueltaten schöngeredet, wie können Menschen überhaupt an ein System, das auf Lügen gebaut ist, glauben?
Eine Aufarbeitung der Shoa im Stile Hannah Arendts? Arendt, die über den Eichmann-Prozess 1961 für The New Yorker berichten sollte, und ihr Begriff der „Banalität des Bösen“ sorgten für Kritik und Kontroversen. Als gewöhnlichen Schreibtischtäter und „Nobody“ beschrieb die jüdische Philosophin den SS-Obersturmbannführer, ein Hauptverantwortlicher der Deportationen von mehr als 6 Millionen Juden in der Shoa, Eichmann als Typus der arbeitsteiligen Moderne. Anne Simons Ansatz klingt ganz danach. „Es geht nicht nur um die Aufarbeitung der Shoa. Es geht mir wirklich mehr um die Gefangenen, die da sitzen und letztendlich in den Spiegel schauen müssen. Das ‚Dritte Reich’ ist zu Ende und inwiefern sind die Dinge, an die man geglaubt hat, noch gültig? Es ist noch vor Nürnberg und die Gefangenen kämpfen mit ihrer Vergangenheit, damit etwas zu erhalten, was für uns natürlich heute verloren ist.“
Es ist eine surreale Situation, die in Ashcan nachgespielt wird. Simon will zeigen, wie die Täter versuchen, das System, an das sie einst glaubten, aufrechtzuerhalten – und ihre Unsicherheit über die weitere Zukunft. Gibt es den Typus des abgeklärten Verbrechers, und was steht hinter der Maske? Dass Diktatoren und Massen faschistische Systeme über Jahrzehnte aufrechterhielten, sei letztlich etwas sehr Gegenwärtiges, darin sieht die Regisseurin eine Aktualität. Natürlich seien alle Diktatoren und Autokraten auch verrückt, wenn auch nicht im klinischen Sinn. Das wäre zu einfach. „Ich sehe Menschen, die versuchen, sich an ein System festzukrallen, weil das etwas ist, was sie sich über Jahre, Jahrzehnte eingeredet haben, woran sie glauben wollen. Das haben wir doch heute auch. Ich glaube, das Stück ist eine Reflexion hierüber.“
Es sind Luxemburger Charakter-Darsteller, die die Rollen in Ashcan übernehmen wie Marco Lorenzini oder Steve Karier, der Hermann Göring spielt, aber auch deutsche und anglophone Schauspieler. Die gesamte Konstellation im Hotel in Mondorf nach dem Ende des Terrors habe sehr viel mit Schauspiel zu tun, so Simon. All diejenigen, die darüber berichtet haben wie Erika Mann, hätten bereits theatrale Begriffe genutzt, um über Ashcan zu schreiben, „fast so, als wären es die Proben zu Nürnberg gewesen“. Gerade in der doppelbödigen Figur Görings, einem irgendwie auch sympathischen Lebemann, könne man einen Archetypus wiederfinden. „Göring war ein Populist, ein Mensch der Menschen, Göring hat sogar Witze über sich selbst gesammelt. Er muss ein kleines Heftchen gehabt haben, in dem er die Witze, die über ihn auf der Straße gemacht wurden, aufgeschrieben hat“, erzählt Simon. Selbst US-Botschafter John Dolibois habe geschrieben, dass Göring sicher derjenige war, mit dem man am liebsten zu einer Party gegangen wäre.
Im Stück trete die Gefühllosigkeit von Karl Döhnitz hervor, für einen Militär gehöre Töten eben zum Job. Die rechtliche Frage bei ihm sei, waren es anklagbare Verbrechen, also „war crimes“, oder noch zulässige kriegerische Mittel? „Ich persönlich finde es total abstrus, dass es da Kriegsregeln gibt, Kriege überhaupt. Aber woher seine rechtfertigende Abgeklärtheit kommt, versuche ich irgendwie zu verstehen“, sagt Simon. Diese Menschen müssten doch auch abgestumpft sein. „Und da die Relationen zu sehen und es eben nicht nur als Geschichte abzutun“, darum ginge es ihr.
Ist es die ungeahnte Nähe zum „Weltgeschehen“, der Ansammlung des Bösen im kleinen luxemburgischen Mondorf, die einen Teil des Interesses an dieser nur wenige Monate andauernden Episode nach der Befreiung durch die Alliierten auslöst? Ist es ein Theaterstück, das in Luxemburg spielt, der Ort aber weniger Bedeutung hat, als vielmehr der nahe Blick auf die Charaktere des historischen Horrors? Anne Simon hofft darauf, dass die Zuschauer durch die direkte Konfrontation die Bezüge zum Heute schlagen können, „die Gefahr dieser Banalität des Bösen“ erkennen. Und die Besucher sich die Fragen stellen, die sie bei den Proben im Kopf haben: Was hätte ich gemacht? Wäre ich weggelaufen? Hätte ich jemanden versteckt?
Keine Frage, das knapp zweistündige Stück Codename Ashcan, das – wie bei den Original-Verhören – auf Englisch und Deutsch gespielt wird, hat Potenzial, die durch den Artuso-Bericht entstandene Diskussion auf einer individuellen Ebene fortzusetzen. Ein weiteres Puzzle-Teilchen und eine künstlerische Auseinandersetzung mit der Präsenz der Vergangenheit.