Geschichte wird bekanntlich von bedeutenden Männern geschrieben. Vielleicht liegt es daran, dass die Geschichte der Schwestern Bal bis heute noch kaum erzählt wurde. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass es neben ein paar vergilbten Fotos aus der Photothèque und Zeitungsartikeln aus der ehemaligen Sowjetunion kaum gesicherte Dokumente über die beiden gibt. Ihre Lebensgeschichte ist schillernd. Sie passt in der Form, in der sie Simone Mousset in ihrem Tanzstück Bal erzählt und in Bühnensprache übersetzt in kein Geschichtsbuch. Dabei liefert ihr Leben durchaus Stoff für nationale Mythen: Einst lebten zwei Schwestern in Luxemburg, die quer durch das ganze Land und bis über die Grenzen des Großherzogtums hinaus mit ihrem folkloristischen Tanz für Furore sorgten. Sie reisten durch die Welt, gründeten ihre eigene Kompanie und sollten irgendwann bei einer Tournee in die UdSSR spurlos verschwinden ...
Die Tänzerinnen Simone Mousset und Elisabeth Schilling erzählen die konstruierte Geschichte der Schwestern Bal in einem einstündigen Stück im Kulturhaus Miersch, märchenhaft und avantgardistisch. Mutig und witzig. Zu sanfter Akkordeonmusik (Maurizio Spiridigliozzi) performen Mousset und Schilling zunächst den „Dauwendanz“ der Bal-Schwestern, einen alten Volkstanz. Mit Trippelschritten und wackelnden Köpfen werden sich die beiden vermeintlich unbeholfen und doch in jedem Moment mit sicheren Tanzschritten über die Bühne bewegen, um sich dann Vögeln gleich in die Lüfte zu schwingen.
Simone Moussets Choreographie, die die Tänzerin in weiten Teilen im Rahmen ihrer Künstlerresidenz im Kulturhaus Miersch konzipiert hat, zeigt, dass die Schwestern Josephine und Claudine Bal, geboren in den 1920er Jahren in Broderbour, mit der Interpretation ihrer folkloristischen Stücke ihrer Zeit weit voraus waren. Die Auszüge aus ihrem „Dauwendanz“ oder „Josiane, d’Meedche vum Land“ wirken von Mousset und Schilling interpretiert trotz der recht biederen traditionellen Kostüme, den langen Röcken und hochgeschlossenen Blusen, frech und progressiv. In Nancy sollten die beiden auf ihre Liebhaber Claude und Joss treffen und von ihnen schwanger werden... seiner Zeit ein Skandal!
1962 gründeten die Schwestern das „Ballett national folklorique du Luxembourg“.
„But the turning point in their career came when they went to America“ erzählen die beiden in dem Stück, deren Dialoge überwiegend englisch sind. Nach ihrem Aufenthalt in den Vereinigten Staaten gründeten sie ihre eigene Kompagnie und akquirierten talentierte TänzerInnen zwischen Luxemburg und Brüssel. In den 70er Jahren folgten angeblich Auftritte in Spanien, Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion.
Historische Bilder von Théo Mey aus der Photothèque und Zeitungsartikel u.a. aus El País im Foyer des Kulturhaus Miersch sollten von ihrem einstigen Erfolg künden. Aus zahlreichen Dokumenten hat Simone Mousset die Geschichte des Tanzballetts der Bal-Schwestern zusammengesetzt und mit Hilfe der heute 93-jährigen Alice Lawrence, einst selbst Tänzerin der Truppe, rekonstruiert, liest man in der begleitenden Broschüre.
Ihre Ballett-Stücke waren seiner Zeit jedoch nicht sonderlich erfolgreich, „die Leute langweilten sich“ heißt es in Bal. So war auch ihre Performance „Josiane, the country girl“ nie beliebt, wurde sie doch als zu depressiv wahrgenommen. Ihre eigene Tanzsprache sollten sie erst mit den Jahren entwickeln. Erst als sie mit „Tusnelda, d’Kinnigin vun Turkestan“ orientalische Kulturen imitierten, sollte ihnen der Durchbruch gelingen. Doch auf dem Höhepunkt ihres Erfolges verunglückten ihre Männer. Schicksal oder Fügung – die Parallelen zwischen den wahren Lebensgeschichten der Schwestern und ihren Stücken, insbesondere der Handlung von „Josiane, d’Meedche vum Land“, liegen auf der Hand. Ihre Erzählungen erweisen sich als Prophezeiungen: Eine Grauzone, in der Erzählung und Sage verschwimmen. So wie die gesamte Geschichte der Bal-Schwestern phantastisch und nicht frei von Widersprüchen ist, ist sie doch „frei erfunden“ – wie Simone Mousset nur wenige Tage nach der Premiere das Geheimnis lüftete. Liest man die Ankündigung im Tageblatt vom 18. April 2017, so heißt es darin: „Wenn es nicht wahr ist, ist es doch erfunden ...“ und „in Zeiten von ‚fake news’ eine perfekte Geschichte, die erzählt werden will“. Keine Frage, der Medienpartner war, was die Fiktion der Geschichte betrifft, im Bilde, während die „Zeitung für Wahrheit und Recht“ hereinfiel auf Moussets vermeintlich dokumentarisches Stück.
Aber ist dies auf der Bühne wirklich wichtig? Oder zählt nicht vielmehr, wie Geschichten im Theater erzählt werden? Das Volkstümliche transportiert sich in der verspielten Choreographie ebenso gut wie die Sage um das Geschwisterpaar, das von Schilling und Mousset selbstbestimmt und witzig interpretiert wird. Die wilden Gerüchte über ihr Verschwinden werden von ihnen in den Raum geworfen und ironisch widergespiegelt. Mit präzisen, leidenschaftlichen Tanzschritten erzählen die beiden Tänzerinnen in Bal so die Geschichte von zwei Luxemburger Pionierinnen des Zeitgenössischen Tanzes, die es namentlich nie gegeben hat und deren Stil, in den Anfängen von folkloristischen Elementen geprägt, sich vor allem als avantgardistisch herausstellen wird. Mousset und Schilling erschaffen mit Bal so tänzerisch eine Traumwelt. Simone Mousset ist es mit Bal zudem gelungen, selbst die Medienwelt kunstfertig zu täuschen. – Ein durch und durch gelungener Coup! Wenn es im Theater nicht darum geht, Träume zu kreieren, worum geht es dann?