Eine Dampflok ist per se träge. Es knirscht im Fahrwerk, wenn erste Pferdestärken an ihr zerren. Jeder Zentimeter am Bahngleis entlang erfordert einen Kraftakt, frisst Kohlenglut. Das tonnenschwere Gefährt zwängt sich dann zusehends entschlossener über die Schienen. Schneller und schneller bewegt sich die Masse, bis ihr eigenes Gewicht zur Schubkraft wird, der ganze Zug autonom beschleunigt. Es wird der Moment kommen, da ginge jede Kontrolle über das Getüm verloren, es verwandelte diese Kraft in eine Waffe, unter der ihm nicht nur die Passagiere, sondern der Fahrer selbst ausgeliefert wären, gäbe es keine Bremsen. Wenn die Lok erst einmal in Fahrt gekommen ist, ginge ansonsten ein Ganzes zu Grunde.
In Arthur Millers The Crucible (1953) gibt es keine Lok. Der US-Dramatiker führt uns nach Salem/Massachusetts des Jahres 1692. Nirgends ist die Rede von Kohlekraft, das Benzin seiner Hexenjagd ist der theokratische Stumpfsinn mancher religiöser Puritaner, verbunden mit einer gehörigen Portion profaner Missgunst, Eifersucht und materialistischer Gier. Diese Schubkraft mag nicht glühen, und doch zeigt sie sich mit ersten Anschuldigungen der Hexerei gegen einzelne Dorfbewohner, frisst sich später mit Massenhinrichtungen durch die DNA der gesamten Gemeinschaft. Die Ratio des Beschuldigten Proctor und die wachsende Vernunft des Reverend Hale können der manipulativen Rhetorik des Richtergespanns um Judge Danforth nichts anhaben. Es ist bekannt dass nicht etwa okkultes Treiben Ursprung der Konflikte ist, sondern niedere Missgunst etwa zwischen dem verheirateten Proctor, seiner Geliebten Abigail und dem 7. Gebot: „Thou shall not commit adultery.“ Am Ende hingegen hängen die Beschuldigten allein deshalb, weil das Scharfgericht angesichts schwelender Proteste gegen die Hexenjagd keine Urteile aufzuheben wagt. In Salem beschleunigt der Fanatismus ohne Bremse.
Douglas Rintoul inszeniert Arthur Millers Allegorie gegen die US-amerikanische und antikommunistische McCarthy-Ära der 1950-er Jahre mit sehr zurückhaltenden Mitteln. Dieser Umstand bietet zum einen den Nachteil, dass der ungemein textlastige und gerade in seiner anfänglichen Exposition recht zähe Handlungsstrang nicht wirklich in die Gänge kommt. Zu bräsig bewegen sich die zahlreichen Darsteller auf der engen Bühne. Eine durchdachtere Gestik und Rollen-Positionierung böte der Textlast den nötigen Kontrast. Die Mimik der überzeugenden Darsteller wie Eoin Slattery, Charlie Condou oder Jonathan Tafler ist im Großen Theater vorwiegend in den ersten Reihen erkennbar. Insbesondere im zweiten Akt gibt es aber einen deutlichen Spannungsbogen. Dank ihm kommt die Inszenierung in Fahrt.
Zum anderen hat diese Zurückhaltung den Vorteil, dass die gering dosierten Regieeinfälle stärker ins Gewicht fallen. Ausgewählte Regieanweisungen werden an die Kulisse (Anouk Schiltz) projiziert. Der Bühnenbereich hinter dem Gerichtsaal ist in rotes Licht getaucht und erinnert an die Frage, wessen Seele eigentlich verdammt ist: Sind es die der Hexerei beschuldigten Dorfbewohner oder jene Kirchenleute, die die vermeintlichen Hexer an den Galgen bringen wollen?
Zum Prozessauftakt stehen die Teilnehmer zudem hinter der durchlässigen Rückwand, in dunkelblaue Schatten getaucht, und beschuldigen sich gegenseitig. Kaum ist erkennbar, wer gerade wen denunziert, wer gerade versucht, sich zu verteidigen. Das Hexenfieber grassiert überall, Angeklagte und Denunzianten sind beliebig austauschbar. Es ist nahezu gleichgültig, wer hier Lokführer und wer Passagier ist. Die gesamte Gemeinde ist mit diesem gegenseitigen Rachefeldzug dem Untergang geweiht.
Zudem gewinnen gerade jene Szenen an Intensität, in denen es keiner weiteren Regieeinfälle bedarf, weil sich alle Aufmerksamkeit auf die Spannung zwischen zwei Rollen richtet. So bewegt etwa die Offenherzigkeit zwischen den Proctor-Eheleuten in dem Dialog, darin Elizabeth ihrem Mann entgegnet, nur er selbst vermöge zu entscheiden, ob er die vermeintliche Hexerei gesteht oder seinen Ruf, seinen Namen rettet und sich nicht erpressen lässt. Am Ende reißt er das signierte Geständnis entzwei und besteigt das Schafott erhobenen Hauptes.
Die teils langatmigen, ja bisweilen grotesk anmutenden Momente von Rintouls Inszenierung täuschen jedoch nicht darüber hinweg, wie ungemein aktuell Millers Allegorie der gesellschaftlichen Denunziation und Pseudo-Fakten ist. Die zahllosen Nachrichtenblöcke zu Populismus und Post-Truth mögen kaum noch erträglich sein. Nichtsdestotrotz bleibt bei Rintoul unverkennbar, wie austauschbar die Dogmen sind, unter denen die Marktschreier des (historisch belegten) Richters Danforth über Senator McCarty bis hin zu Trump, Orbàn und Co. es schaffen, an die niederen Instinkte der Menschen zu appellieren. Präzise wird nachgezeichnet, wie sie diese auf ihren Zug zerren und eines Tages erkennen mögen, dass sie selbst sich an Bord jener Dampflok befinden, die sie eigenhändig in Bewegung setzten und deren Aufprall sie nicht mehr verhindern konnten oder können. Millers Crucible ist ein bisweilen recht didaktisches und pathetisches, in seiner Aktualität aber eindeutiges Plädoyer für Vernunft und Rückgrat. Douglas Rintoul lässt den Text sprechen, hält sich als Regisseur aber zu sehr im Hintergrund.