Der kleine Saal des Kasemattentheaters ist selbst am dritten Spieltermin bis zum letzten Stuhl besetzt. Kein Wunder, es klingt toll: „Ein intellektuelles Ideenstück, das sich mit der aktuellen EU-Problematik auseinandersetzt“, heißt es im Flyer. Im besten Fall werde das Stück, in dem alle eine unterschiedliche politische Haltung haben, eine Diskussion um die EU entfachen, hofft Guy Helminger. Denn es mangele nicht an Geschwätz und an lautem Geschrei in Talkshows, den sozialen Medien, und so manchem Parlament, eine Diskussionskultur gebe es dort aber nicht, weil niemand an den Argumenten der Gegenseite interessiert sei, sondern allein daran, den „Gegner“ zu diffamieren, beklagt der Autor.
Sein Ansatz, Für-und-Wider-Positionen gleichberechtigt zu Wort kommen zu lassen, klingt pädagogisch, der Titel „Guten Morgen, Ihr Völker“ bedeutungsschwer. Die Latte hängt hoch. Die Zuschauer blicken auf eine milchige Wahlkabine, dahinter ein Schreibtisch (Brüssel steht für Bürokratie!), am Fußboden liegen verstreut blaue und gelbe Zettel, die an die Fahne der EU denken lassen. Ein gelungenes Bühnenbild von Anouk Schiltz. Fabienne Hollwege als Sekretärin Santos wird die Zettel emsig vom Boden auflesen, bevor das Stück jäh Fahrt aufnimmt.
Ana Santos ist das Paradebeispiel der gelungenen Integration. Mit zehn Jahren kam sie aus Portugal nach Luxemburg, mauserte sich zur Musterschülerin und ging irgendwann nach Brüssel, weil schon ihre Oma von der EU schwärmte. Ihr Kollege Patrick Lemmer (Roland Bonjour) ist ein Hallodri und gilt als „Mozart der Redenschreiber“. Er soll die Abschiedsrede des Kommissionspräsidenten schreiben. Drei Stunden bleiben noch bis zur bedeutenden Rede. Drei Stunden, in denen Lemmer lieber mit der Sekretärin flirtet, als sich von seiner Chefin, EU-Kommissarin Wiltraud Rüttenberger (Désirée Nosbusch) gängeln zu lassen.
„Nie ist eine europäische Einigung ferner, als wenn sich der Rat trifft; salopp gesagt ‚Europa ist am Arsch’“, ertönt es aus dem Off. „Wer aber übernimmt Verantwortung?“, fragt sich Santos, die den Part der EU-kritischen Outsiderin und Helmingers Alter Ego – mit einer Vorliebe für Death Metal – übernimmt. „Wer ist für die fortschreitende Kluft zwischen Arm und Reich verantwortlich?“, fragt sie ketzerisch, bis Lemmer die Internationale trällert, um auch dem Letzten klarzumachen, dass die gebildete Sekretärin subversive Positionen vertritt und Désirée Nosbusch brüsk hineinplatzt, um die Chefin zu mimen.
Die drei Schauspieler geben sich als hohe EU-Beamte aufgeplustert. Mit einer vernichtenden Geste wird Rüttenberger so den ersten Entwurf ihres Mitarbeiters, „Ist das eine Büttenrede?“, vom Tisch fegen. Patrick Lemmer fasst seinen EU-Zweckoptimismus in Worte: „Wenn der Motor einen Schaden hat, heißt das doch nicht, dass der ganze Wagen schlecht ist!“ und schlägt schon mal überdreht einen Purzelbaum über den Schreibtisch. Kein schlechter Einstieg, doch was folgt gerät schnell zur Seife(noper). So wird sich Rüttenberger als verflossene Geliebte des Kommissionspräsidenten herausstellen. Eine Affäre in Garmisch-Partenkirchen mit René Thill aka Jean-Claude Juncker wird sie dazu bringen, ihn ewig zu verklären: „Dieser Mann ist voller Visionen!“.
Überhaupt sind plumpe Seitenhiebe auf Juncker unverkennbar, etwa wenn es schon zu Beginn heißt, „der Kommissionspräsident war gestern mal wieder voll wie eine Haubitze!“ Oder wenn es heißt, welche Rede er schließlich halte, „käme darauf an, in welche Tasche er greife.“ Helminger setzt darauf, dass Juncker-Bashing in Luxemburg funktioniert und trifft damit ins Schwarze: Am Ende donnert der Applaus.
Der blinde Europa-Glaube der Kommissarin wirkt gespenstisch naiv: „Europa entsteht in den Herzen der Bürger!“ Nosbusch überzeugt als herrische EU-Kommissarin mit Managerinnen-Attitüde, die ihre Mitarbeiter schikaniert. Ihre Spitzen auf Trump erweisen sich als gefällige Kalauer („Bei uns sitzt auch bei Wind die Frisur“), die weit weniger Anklang finden, als das Juncker-Bashing. Spätestens wenn sie zum dritten Mal „Damals in Garmisch-Partenkirchen...“ seufzt, ist die Luft raus und man fragt sich, welcher Phantasie der Autor erlegen ist, dass er Frauen derartig lächerlich bedeutenden Männern hinterherlechzen lässt. Und wenn Patrick Lemmer deutsche Schlager trällert, um irgendwann über Ana Santos herzufallen, hat dies viel mehr von einem Revue-Spektakel als von klugem Theater.
In wechselnden Metaphern wird einem eingetrichtert, man müsse in einer Partnerschaft Kompromisse schließen. Europa, eine Vernunftehe! Die vermeintlichen Vorteile Europas werden jedoch nie benannt und erschöpfen sich in Phrasen. „Die EU ist nicht für alle Übel dieser Welt verantwortlich“, brüllt Santos irgendwann hysterisch. Am Ende wird es moralisierend. Auf die Hähnchenkeule hat man noch gewartet: „Wir überschwemmen den afrikanischen Markt mit unseren Produkten und zerstören damit Existenzen!“ Rüttenbergers lakonische Einsicht ihrer verflossenen Liebe hängt schließlich wie eine Binsenweisheit im Raum: „Wenn der Kommissionspräsident geht, verliert Europa einen Liebhaber!“
Die klamaukige Inszenierung plätschert zwei Stunden lang vor sich hin und bedient im wesentlichen Anti-EU-Ressentiments. Regisseur Pol Cruchten, der noch 2013 Das Interview im Kasemattentheater fesselnd inszeniert hat, vermag es mit Guten Morgen, Ihr Völker! trotz guter Schauspieler nicht, das EU-Stück facettenhaft auf die Bühne zu bringen und verpasst die Chance, eine Reflexion auszulösen. So erschöpft sich die Komödie in Helmingers Wortwitz. Guten Morgen, Ihr Völker! ist zu eindimen-
sional inszeniert für gutes Theater und zu platt für politisches Kabarett! Unter den bemühten Wortspielen bleibt nur eine Metapher hängen. Lese man das Wort „Europa“ andersherum, so klinge dies wie „Aporie“. Nicht nur Europa steht offenbar vor einer großen Ratlosigkeit.