Erhart Borkman darf nicht bagpacken. Schon gar nicht in Süd-Amerika. Noch dazu für die Dauer eines halben Jahres. Erhart ist ein Mann an der Schwelle zum Erwachsenenalter. Doch Erhart darf nicht bagpacken. Seine hysterische, dem Alkohol verfallene Mutter Gunhild möchte nichts dergleichen hören. Soll ihr Sohn doch bitteschön die Karriereleiter hochklettern, von der ihr zurückgezogener Ehemann und Wirtschaftsbetrüger John nach anfänglich großem Erfolg so grandios abstürzte. Erharts Tante Ella, die den Neffen nach dem Untergang der Familie ihrer Zwillingsschwester erzog, möchte die Reisepläne ebenso wenig unterstützen. Erhart soll mit der krebskranken Ziehmutter umziehen und sie in den Tod begleiten. Vater John Gabriel Borkman möchte mit seinem Sohn in gemeinsamer Arbeit Großes schaffen, doch die Träume aus Wirtschaftswahnsinn und High-Tech-Sprech, errichtet auf wankendem Fundament, sind nicht Erharts Träume. Er möchte sein eigenes Leben, seine eigenen Wünsche verwirklichen. „Du kannst doch leben, wart’ halt noch ’n bisschen“, lautet die Reaktion, Zeugnis völliger Entfremdung zwischen alter und neuer Generation.
Mit John Gabriel Borkman veröffentlichte der norwegische Dramatiker Henrik Ibsen 1896 seine vorletzte dramatische Arbeit, dies unter dem Eindruck des kaufmännischen Aufstiegs und tiefen Falls seines Vaters Knud Ibsen. In aller Breite werden der familiäre und soziale Ruin sowie die anschließende Unterbringung im Hause des Onkels im Programmheft des Wiener Burgtheaters geschildert. Auch die Verhaftung eines namhaften Offiziers und Betrügers aus der Gegend um Christiana (heute: Oslo) Mitte des 19. Jahrhunderts sowie die anschließende psychische Zerrüttung und der soziale Rückzug bewegten den damaligen Jungschriftsteller nachhaltig.
Mit dem renommierten Wiener Burgtheater inszeniert der australische Regisseur Simon Stone John Gabriel Borkman in neuer, entrümpelter Form und gastierte letzte Woche an zwei Abenden im Grand Théâtre. Das Grundgerüst seines Schöpfers und die Figurenkonstellation bleiben soweit bestehen und Ibsen darf Ibsen bleiben. Seiner naturalistischen Sprache mit wiederholt mystischer Prägung wird jedoch der Garaus gemacht. Vom Gossen-Slang über IT-Palaver bis hin zur brachialen Prosa wird hier ein Original auf kaum nachvollziehbare Weise vulgarisiert. Der angenehm karge, pausenlos von herabrieselndem Kunstschnee bedeckte Bühnenboden (Katrin Brack) entpuppt sich sicherlich als ästhetisch sinnvoller Einfall. Die Darsteller erheben sich mehrfach aus der Schneedecke und tasten in der weißen Masse nach den Utensilien ihrer so jämmerlich verbliebenen Existenz: das Kabel eines Röhrenfernsehers, eine Flasche Schnaps, die elektrische Gitarre. Im Verlauf der Handlung zeigt sich, dass keine Schneedecke die für Ibsen so typischen Geister der Vergangenheit zu verbergen in der Lage ist. Warum also diese peinlich vulgarisierte Ausdrucksweise („Du psychopathisches Arschloch!“), wenn die restlichen Kunstgriffe die Produktion bereichern? Kann denn Theater wirklich nicht ohne Facebook, Skype und Co., dort, wo diese Motivik sich nicht zwingend anbietet? Wird auch Ibsens Stil im Smombie-Zeitalter nicht vom Pimpen verschont?
Nachvollziehbar ist, dass die Netzpräsenz die Presseauszüge auf www.theatres.lu wie ein Amalgam der Lobeshymnen wiedergibt, und doch hat die Inszenierung durchaus polarisiert. Ausgezeichnet wurde Stones Produktion mit dem Nestroy-Preis für die Regie, doch eben auch für die darstellerische Leistung. Dazu zählen Martin Wuttke in der Titel- und Roland Koch als Autor Wilhelm Foldal in der Nebenrolle. Und damit sei die wunderbare mimische Leistung des Ensembles hervorgehoben. Wuttkes schludriges Gebaren als langhaariger sozialer Einsiedler und seine markant kratzige Stimme tragen die gesamte Produktion. Wuttkes Spielkunst ist meisterlich. Dazu liefert Caroline Peters besonnene Darstellung der Ella Rentheim einen wohligen Kontrast. Birgit Minichmayr sorgt in ihrer Rolle als ehemalige Bankiersgattin mit ihrem völlig cholerischen, kreischenden Stimmenüberschlag in der ersten Hälfte des Dramas für Unterhaltung, Dynamik und herausragende Momente. In der zweiten Hälfte jedoch übertreibt sie es stimmlich und ihre Rolle wird stellenweise der Lächerlichkeit preisgegeben.
Die Dramaturgie (Klaus Missbach) schafft es trotz der generell starken Darsteller und der Bühnenästhetik nicht über die zwei Stunden der Produktion hinaus und leistet sich somit Längen. Die letzte Viertelstunde endgültiger Entwirrung und Versöhnung der Zurückgebliebenen, die Reduktion der Kulisse auf den Bühnenboden vor dem zugezogenen Vorhang zahlen sich jedoch aus.
In Simon Stones John Gabriel Borkman sorgen manche Elemente der so genannten Entrümpelung für Erfrischung. Zu oft jedoch wirken sie überflüssig, störend, ja lächerlich. Der Wiener Standard kanzelte die Bühnenarbeit 2015 als „Boulevardkomödie“ ab. Dazu wirkt die Produktion aber zweifellos zu durchdacht und ästhetisch konzipiert. Mit einigen Lobeshymnen wird die Produktion jedoch zu sehr gefeiert. John Gabriel Borkman von Simon Stone unterhält streckenweise, gibt Ibsens literarisches Gespür aber nicht selten der Lächerlichkeit preis. In Luxemburg wurde das Ensemble nichtsdestotrotz minutenlang bejubelt.