Guy Helminger hat den Ruf, gering scheinenden Anlässen in seinen Gedichten unerwartete poetische Tiefenschärfe zu verleihen. In seiner Preisrede zum Dresdner Lyrikpreis, den Helminger 2016 zusammen mit Simona Racková erhielt, hob Urs Heftrich in diesem Sinne das Vermögen Helmingers hervor, „aus kleinen, präzisen Beobachtungen seiner Umgebung einen Funkenregen von Assoziationen zu schlagen“1. Der Dichter selbst hat in seinen poetologischen Texten auf die Bedeutung des Augenblicks verwiesen, dessen Einzigartigkeit im „Wiederherstellungsprozeß augenblicklicher Wahrnehmung durch das Gedicht“2 gewahrt werden soll. Das bedeutet für das Gedicht, dass es nah am Gegenständlichen und an der Wahrnehmung bleiben muss, und so nehmen sich Helmingers Gedichte als kondensierte sprachliche Momentaufnahmen aus, die sowohl eine geballte Gegenständlichkeit wie auch die Vielschichtigkeit sinnlicher Erfahrung inszenieren. Auch an Helmingers aktuellem Gedichtband lässt sich dieses Vermögen ablesen.
Die Tagebücher der Tannen führen in Wohnsiedlungen und Schulturnhallen, die meist zu ländlichen und kleinstädtischen Umgebungen passen. Auch wo urbane Szenerien bemüht werden, findet sich der Leser in Vertrautem wieder, in Straßenbahnen und Kneipen, am Rhein oder auf dem Place d’Armes. Doch keine Klischees. Die scheinbare Banalität der Orte verblasst hinter dem sprachlich verdichteten Andrang des Konkreten. So heißt es etwa in „Das Huhn“: „[...] Über uns eine Leinwand aus Amseln Der/ Garten wuchs als Vorort des Hühnerstalls/ an unseren Blicken entlang“. Das ist das Bezaubernde an diesen Gedichten, dass sie den Moment nicht in einen sprachlichen Schraubstock zwingen, ihn zu meistern oder zu analysieren versuchen. Es geht Helminger um die Begegnung, um den Moment und die sinnlichen wie reflektiven Prozesse, die er auslöst. Formal passen dazu die häufigen Zeilensprünge und der Verzicht auf die ordnende Gewalt von Interpunktion und Reimschema. Demgegenüber stiftet Helminger mit Stabreimen unverhoffte Assoziationen, wie die titelgebenden „Tagebücher der Tannen“ oder den Zusammenklang einer „Straße von oben“: „ein/ Stück für Piano und Pizza aufgeschlagene/ Partitur Proben für Kebab und Klavier“ („Nachts am geöffneten Fenster“).
Die Gedichte verraten ein phänomenologisches Anliegen, die Welt begegnen zu lassen und verstehen zu wollen, was in dieser Begegnung passiert. „Meine Gedichte betreiben eine Art lyrische Erkenntnistheorie“3, hat Helminger 2014 in einer seiner Poetikvorlesungen an der Universität Duisberg-Essen gesagt. Sie tun dies allerdings auf unverkopfte Weise, ohne dem Leser einen theoretischen Überbau zuzumuten oder in ominöses Geraune zu verfallen. Stets sind diese Gedichte aus Konkretem, Anfassbarem gebaut und behalten auch dort, wo der Leser den Volten der Bildlichkeit nicht mehr ohne Weiteres folgen kann, einen nachvollziehbaren Kern.
Vielleicht liegt es in der Logik dieser Herangehensweise, dass Landschaft als Thema und Motiv in diesem siebten Gedichtband des Autors eine herausragende Rolle spielt. Meer, Gebirge und Wälder, aber auch Gärten und Obstwiesen erscheinen gleichzeitig als vorgefundene und als gemachte beziehungsweise zu bestimmten Zwecken genutzte Orte, das Gebirge etwa als Ort der drohenden Schneelawinen und gleichzeitig des „Skirummels“. Unterlegt wird der Fokus auf das Gegenständliche mit einem Nachdenken über das Verstehen und die Bedingungen des Verstehens selbst. Dabei steht – im Einklang mit der phänomenologischen Herangehensweise – nie allein das dichtende Ich unter Beobachtung, sondern auch das, was es antrifft, sei es Mensch, Tier oder Umgebung. Grundlegende hermeneutische und literaturwissenschaftliche Begriffe tauchen so als Eigenschaften der Umgebung auf. Da ist dann vom „Reimschema der Rhododendren“ die Rede, „Schiefblattgewächsen“ wird eine eigene „Rhetorik“ unterstellt, „Die beiden Ufer des Baches“ erscheinen „als Doppelvers“ oder es heißt: „Der Wind/ hier mochte Metaphern“. Im Zentrum dieses Verfahrens steht letztlich das Verhältnis von Sprache und Welt; das Handwerk des Dichters, das Welt in Sprache überführen soll. In „Was da kommt“ lässt er in einer Dorfidylle einen Jungen auftreten: „Vor dem Regal mit dem/ Gedichtband soll er seinen Vater gefragt/ haben: ‚Welcher Vers davon sind wir?’“. Helminger geht sein Handwerk mit dem ihm eigenen Humor an. Wo das Huhn dem Ich hoffnungsvoll entgegenläuft, weil vor Jahren ein Schlachtverbot verhängt wurde, setzt der Dichter als Pointe ein lakonisches „Tja“. Wer lacht, wird von den Dingen nicht überrumpelt.