Ein Schriftsteller, so ließe sich nach der Lektüre dieses Werks schlussfolgern, ist ein Mensch, der auf Caféterrassen sitzt und kleine Notizhefte vollschreibt. Zumindest gilt dies für den Typ Schriftsteller, den Lambert Schlechter in Les Parasols de Jaurès verkörpert, dem mittlerweile achten Band seines tagebuchähnlichen Projekts „Le Murmure du monde“. Benannt ist dieser Teil nach der place Jaurès in Montpellier, dessen Café des Arts den zentralen Schau- und Schreibplatz des Buchs bildet. Der dichterische locus amoenus unter dem Sonnenschirm bietet Schutz vor der drückenden Hitze des französischen Südens, aber auch vor der klirrenden Kälte des luxemburgischen Nordens, und lädt zum ausgiebigen Sinnieren ein. Die Leser*innen erwartet die von Schlechter bekannte Mischung aus Alltagsbeobachtungen, Lektüreeindrücken, Träumereien und Erinnerungen sowie Reflexionen über Alter, Tod und Sexualität. Dargeboten wird dies alles mit der ebenfalls gewohnten formalen Strenge des vielfach ausgezeichneten Autors.
Soweit also herrscht business as usual bei Lambert Schlechter. Der Verlag präsentiert das Buch allerdings in einer durchaus außergewöhnlichen Form. Fast könnte man meinen, ein Faksimile von Schlechters Notizbuch in Händen zu halten: Les Parasols de Jaurès erinnert in seiner äußerlicheren Gestalt – schwarzer Einband, Lesebändchen und elastisches Gummiband – an jene berühmten Moleskine-Hefte, in denen sich bereits, glaubt man der Marketingabteilung dieser 1997 gegründeten Firma, Hemingway literarisch verewigt hat. Im Inneren der auf 500 Exemplare limitierten, nummerierten und vom Autor signierten Ausgabe erscheint jeder der 79 Einträge doppelt, einmal als reguläre Druckseite und einmal als Scan der originalen Notizbuchseite, sodass man das komplette Werk auch in der Handschrift Schlechters lesen könnte. Selbst dessen bevorzugte Füllfeder wird vermerkt. Die Absicht hinter alldem scheint klar: Neben einem gehörigen Maß an Selbststilisierung geht es vor allem um eine Inszenierung von Intimität. So nah wie hier, suggeriert diese Fetischisierung des Schreibakts und seiner Werkzeuge, war man dem Autor noch nie zuvor.
Abseits der doch etwas aufdringlichen Exklusivitäts- und Distinktionsversprechen gibt es allerdings auch noch einen anderen Grund für die besondere Buchgestaltung. Jede der Prosaminiaturen besteht nämlich nicht nur aus einem einzigen Satz (wobei die Regeln der Interpunktion gelegentlich vernachlässigt werden), sondern nimmt auch genau eine Seite im Notizbuch ein. Erst die Scans lassen also erkennen, wie Lambert Schlechter mit dieser contrainte umgeht, um sein Vorhaben des Schreibens auf Maß immer wieder aufs Neue umzusetzen. Dabei ist es durchweg spannend, den Gedankengängen des Autors zu folgen in diesem Buch, das an äußeren Ereignissen äußerst arm ist, dafür aber mit einem überaus reichen Innenleben aufwartet.
Der Tod eines Freundes überschattet zu Beginn die spätsommerliche Atmosphäre in Montpellier, und ein nahender Winter in der luxemburgischen Einöde gibt zusätzlich Anlass, sich mit der eigenen Vergänglichkeit zu befassen. Den Gedanken an Sterblichkeit und Vereinsamung stehen die verlebendigende Lektüre philosophischer Klassiker sowie persischer und chinesischer Lyrik gegenüber, insbesondere aber auch erotische Obsessionen. Es gibt unzählige imaginäre Begegnungen mit Frauen in diesem Band, deren Verwirklichung genauso sehnlich gewünscht wie gefürchtet wird, treibt den Schriftsteller doch auch die schwindende Potenz im Alter um. Genau wie der Troubadour, mit dem er sich vergleicht, versteht sich Schlechter allerdings darauf, sexuelles Begehren textuell zu sublimieren.
Daneben bieten Familienbesuche Halt in den Unwägbarkeiten der Welt – und natürlich das unablässige Schreiben, das als einzig verlässliche Methode erscheint, die eigene Existenz zu befragen und Sinn zu stiften: „Cela parlera, il y aura un flux de parlerie, dans les tonalités de la mélancolique euphorie, ce seront des phrases assez plaintives & désabusées, produite par un constant effort de lucidité précaire et vacillante.“ Les Parasols de Jaurès gehört zu jener Sorte Bücher, die man vorzugsweise den Kennern des Autors empfiehlt. Sie werden diesen hier auf gewohnt hohem Niveau vorfinden und die opulente Buchgestaltung zumindest als nette Dreingabe empfinden, auch wenn sie es ein wenig übertreiben mag mit ihrem Authentizitätsgehabe.