Gustav Mahler hat die Zeit des Wiener Fin-de-Siècle geprägt wie kein Anderer – als Komponist, als Dirigent, als Intendant, vor allem aber als Künstler. Viel hat sich die Musikwelt in den letzten 24 Monaten mit dem Leben des großartigen Wegbereiters der Moderne, ohne dessen Œuvre es keinen Schönberg, keinen Webern, keinen Rihm oder Henze gegeben hätte, auseinandergesetzt: 2010 wurde das 150. Geburtsjahr gefeiert, 2011 an den 100. Todestag Gustav Mahlers erinnert. Kürzlich hatten sich im Kapuzinertheater der Regisseur Claude Mangen, die Bühnenbildnerin Jeanny Kratochwil und die Mezzosopranistin Manou Walesch im Rahmen ihres Musiktheaterprojektes Ich bin der Welt abhanden gekommen auf ganz eindringliche Weise mit der Musik und dem Leben Gustav Mahlers auseinandergesetzt (siehe d’Land vom 11. November 2011). Zweifellos am intensivsten aber hat sich in Luxemburg Guy Wagner mit seinem 2011 beim Freiburger Rombach Verlag erschienenen Roman Die Heimkehr mit dem großen Österreicher beschäftigt – mit seinem Leben, vor allem aber mit seinem Sterben. Der Untertitel des Werks sagt es: „Vom Sterben und Leben des Gustav Mahler“. Im Fokus steht der letzte Lebensabschnitt Mahlers, zwischen dem 8. April 1911, dem Tag, an dem der schwer kranke Gustav Mahler seine letzten Reise von New York über Paris/Neuilly nach Wien antritt, und seinem Tod am 18. Mai 1911.
In den letzten drei Jahren seines Lebens hatte Gustav Mahler sehr viel Zeit in Manhattan verbracht. Er stand bei der Metropolitan Opera unter Vertrag und dirigierte die New Yorker Philharmoniker. Der Komponist stand im Zenit seiner Karriere. Zugleich aber waren dies die schicksalhaftesten Jahre in Mahlers Leben. Einige Monate seinem erstem gro-ßen New Yorker Erfolg, am 1. Januar 1908, mit Wagners Tristan und Isolde, war im Alter von nur viereinhalb Jahren seine Tochter Maria an Diphterie gestorben. Es folgen die Diagnose von Mahlers Herzleiden und die zunehmende Entfernung zwischen dem Künstler und seiner Frau Alma, die sich zum Architekten Walter Gropius hingezogen fühlt. Todkrank kehrt der Komponist schließlich für den letzten Monat seines Lebens nach Europa zurück: „Mein krankes Herz schlägt höher. Soll ich Wien, die geliebte, die verhasste Stadt wieder sehen?“
Gleich mit dieser Aussage des Komponisten legt Guy Wagner die Dualität von Mahlers Leben, seinem Schaffen, seiner Psyche offen. 2005 hatte sich Wagner im Rahmen des biografischen Romans Winterreise auf ganz persönliche Art mit dem Leben von Franz Schubert auseinandergesetzt. Nun haben auf den allerersten Blick Mahler und Schubert nicht so viel gemeinsam. Und doch finden sich zwischen den beiden Romanen Guy Wagners, so unterschiedlich sie auch sind, viele Parallelen. Das Aufgewühlte, das Rastlose, das Gehetzte an Schuberts Persönlichkeit findet sich auch im Sprachfluss wieder, mit dem Wagner sein Psychogramm des sterbenden Gustav Mahler angeht. Genauso wie das Stille und Intime, das Vielschichtige und das innerlich Zerrissene. „Wie mit der Zerrissenheit leben, die darin besteht zu hoffen, die Existenz auffüllen zu können, und sich gleichzeitig zu fragen, welchen Sinn das eigentlich hat?“ Die Frage „nach dem Sinn des Leides, des Leidens und der Grausamkeit der Schöpfung“ lässt Guy Wagner den Komponisten nach seinem Besuch 1910 bei Siegmund Freud im niederländischen Leiden stellen. Und eben diese Frage stellt Mahler permanent in seiner Musik: „Daher ist sie so voller Widersprüche.“
Guy Wagner kratzt nicht an der Oberfläche seiner Romanfigur. Er dringt ein in die Seele des Gustav Mahler – mit seiner gefühlvollen, bodenständigen Romansprache, aber auch an Hand der Zeitzeugen, die er im collageartigen Roman mit Originalzitaten zu Wort kommen lässt. Sehr viel erfahren wir natürlich aus der umfangreichen Briefsammlung von Alma Mahler. Sie ist es, die den Komponisten mit all seinen Stärken und Schwächen, seinen Ängsten und Depressionen, seinem Egoismus und Größenwahn, seiner Menschlichkeit beschreibt. Guy Wagners Werk bewegt sich fernab jeder Lobhudelei und ist doch unglaublich ehrfurchtsvoll. Das Schöne an diesem Roman ist, dass der Autor den Spagat zwischen geschichtlicher Nüchternheit, fesselnder Erzählkunst und poetischer Sensibilität geschafft hat. Die Heimkehr ist ein Buch zum Lesen und Wiederlesen, eine ehrliche, glaubhafte und fundierte Auseinandersetzung mit der Zwiespältigkeit des Gustav Mahler.