Da sind sie wieder, die bekanntesten Bilder der Luxemburger Stahlindustrie: das Foto der Differdinger Arbeiter mit Stuerzekapen und der Inge[-]nieure mit Canotiers-Hitt hinter dem ersten meterhohen Grey-Träger; das Album mit dem pergamingeschütz[-]ten Foto des Unglückswagens von Arbed-Generaldirektor Emile Mayrisch; die lebensgroßen Porträts der als Stahlbarone thronenden Metz, Barbanson und Meyer aus dem Firmensitz am Rousegäertchen.
Zum hundertsten Geburtstag der Arbed zeigt das Staatsarchiv eine Auswahl der spektakulärsten Dokumente aus den 4,5 laufenden Kilometern Akten und Plänen, welche ihm der Stahlkonzern überlassen hat. Die meisten sind noch nicht einmal katalogisiert, entsprechend dürftig ist die Beschreibung der Exponate.
Die Ausstellung Feierrout trägt den zweideutigen Untertitel „Le dernier siècle de la sidérurgie luxembour[-]goise“. Seit die Arbed nicht mehr [-]Arbed heißt, seit sie nicht mehr Staat im Staat ist, seit nicht mehr Zehntausende Familien von ihr leben, scheint plötzlich die Zeit gekommen, Bilanz des wirtschaftli[-]chen Monolithismus vergangener Zeiten zu ziehen.
Die letzte große Ausstellung zur Geschichte der heimischen Stahlindustrie war Anfang 1989, Männer aus Stol an Eisen im Tutesall in Stadtgrund. Nach der Stilllegung der letzten Bergwerke und der großen Stahlkrise Mitte der Siebziger- und Anfang der Achtzigerjahre schien die „industrie crépusculaire“ schon damals manchen reif fürs Museum.
Heute stellt das Staatsarchiv den notariell beglaubigten Gründungsvertrag der Arbed von 1911 aus, 40 Jahre nach der Erfindung der Schreibmaschine noch immer von Hand geschrieben. Er leitete die während des ganzen 20. Jahrhunderts fortgesetzte Konzentration der Schwer[-]industrie ein.
In einer Vitrine liegt ein schwerer Wälzer, das Code-Buch der Columeta aus den Dreißigerjahren. Die Vertriebsgesellschaft der Arbed hatte Vertretungen über den ganzen Erdball, mehr als das Großherzogtum jemals Botschaften. Sie kommunizierten mit verschlüsselten Telegrammen: Für jeden Satzfetzen stand ein fünfstelliger Buchstabencode, der aus Tausenden in diesem gewaltigen Werk nachgeschlagen werden musste.
Der Held der Ausstellung ist Emile Mayrisch. Ihm wird als einzigem eine ganze Abteilung mit Briefen und Fotos gewidmet. Um nach dem Ersten Weltkrieg nicht zwischen Frankreich und Deutschland aufgerieben zu werden und dabei den Zugang zu den Rohstoff- und Absatzmärkten zu verlieren, drängte Mayrisch auf die Gründung der Internationalen Rohstahlgemeinschaft, die Produktionsmengen und Märkte aufteilte. Dafür wird er bis heute als einer der Pioniere der europäischen Integration gefeiert. Obwohl die Europäische [-]Union heute solche Kartelle fürchtet wie der Teufel das Weihwasser.
Ein meterhoher Karteikasten enthält das Verzeichnis der Werkswohnungen, in denen die Arbed die Arbeiterfamilien logierte. In Krisenjahren wurden die schmalen Häuschen mit Schrebergärten verkauft. Auf großformatigen Plänen wurden das Kinderheim auf dem Düdelinger Kreuzberg, die Escher Waldschule, Arbeitersiedlungen in Esch und Düdelingen entworfen. Das war das inzwischen als Paternalismus kritisierte soziale Engagement der Arbed. In einiger Distanz dazu zeigen zwei kleine Fotos die Soldaten, die 1921 während des großen Streiks gegen die Arbeiter der Differdinger Schmelz anrückten. Artefakte aus dem Arbeits[-]alltag an den Hochöfen und Walzstraßen gehören nicht zum Arbed-Jahrhundert des Staatsarchivs.
Dafür liegt in einer der Vitrinen, auf inzwischen gebräuntem Briefpapier der Arbed-Generaldirektion, eine handgeschriebene Selbstanzeige von Generaldirektor Aloyse Meyer. Er bat nach der Befreiung wegen all der „Gerüchte, Kritiken, Kommentare“ den für Inneres und Entnazifizierung zuständigen Minister Robert Als, eine Ermittlung über sein Verhalten unter der deutschen Besatzung einzuleiten.
Denn für die von den Nazis eingesetzte Zivilverwaltung galt, „wer die Arbed hat, hat Luxemburg“ (S. 397). So Hans-Erich Volkmann in seiner von der Fondation nationale de la résistance angeregten und bezuschussten Wirtschaftsgeschichte Luxemburg im Zeichen des Hakenkreuzes aus dem Nachlass von Emile Krier.
Als deutscher Historiker legt Volkmann viel Wert auf Aspekte, die in der Luxemburger Literatur kaum eine Rolle spielen: Er weist darauf hin, dass Luxemburg politisch, wirtschaftlich und kulturell „quasi“ in das deutsche Reich eingefügt wurde, es aber nie zu einer „förmlichen Annexion“ im völkerrechtlichen Sinne kam (S. 180). Er betont die Interessenkonflikte und Rivalitäten in der deutschen Wirtschaft und Bürokratie, die ihn dazu verleiten, die faschistische Diktatur als „polykratisches Herrschaftssystem“ (S. 487) zu definieren. Und erinnert daran, dass die Nazi-Wirtschaft „auf der Basis eines privatwirtschaftlichen Unternehmertums“ funktionierte „bei gleichzeitiger Ausrichtung an staatlich fixierten Bedürfnissen“ (S. 165).
Trotz des Drucks der Reichswerke Hermann Göring und der Deutschen Bank blieb die Arbed während des Kriegs im Besitz ihrer privaten, auch belgischen und französischen Aktionäre. Deutsche Unternehmen, die eine Aufteilung der Beute verlangten, bekamen empfohlen, Arbed-Aktien auf dem freien Börsenmarkt zu erwerben (S. 399). Doch obwohl die Arbed ein Teil der deutschen Rüstungsindustrie war, waren ihre Kapazitäten wegen der schlechten Rohstoffversorgung nicht ausgelastet. Sie durfte keinen Koks aus Deutschland beziehen, die Reichsbahn brauchte ihre Waggons, um Juden in die Gaskammern und Panzer an die Ostfront zu fahren (S. 427).
Für Volkmann haben die Arbed und fast das ganze Land selbstverständlich mit den Nazis kollaboriert. Wobei er lediglich zu bedauern scheint, dass der Begriff „Kollaboration“ eine unverdiente „negative Defini[-]tion“ erfahren hat. Obwohl die Kollaboration für Vollbeschäftigung sorgte, die Stilllegung ganzer Industriezweige sowie die Verschleppung ihrer Arbeiter verhinderte und die materielle Grundlage der Nachkriegswirtschaft sicherte(S. 486-487). In Analogie zum Flick-Prozess in Deutschland weist er eine „Verantwortlichkeit des Managements der Luxemburger Hüttenindustrie“ für die nach Luxemburg verschleppten Friemaarbechter aus Osteuropa zurück, weil „das Sklavenarbeitsprogramm von Regierungskreisen ausgegangen“ war (S. 491).
Dass Volkmann sogar meint, den Luxemburgern sei es während des Kriegs besser ergangen als den Deutschen im „Altreich“ und unter französischer Nachkriegsbesatzung, ging sogar der sonst viel Nachsicht für die eigene Geschichte übenden Frankfurter Allgemeinen Zeitung (11.4.11) zu weit. Hierzulande sorgte die Behauptung bisher nicht für einen nationalen Aufschrei. Vielleicht weil niemand den gestelzt geschriebenen 582-Seiten-Wälzer zu Ende las.
Dort, wo die Ausstellung des Staatsarchivs sich, wie seit Jahrzehnten üblich, diffus in der Nachkriegszeit als dem Höhepunkt und glücklichen Ende der Landesgeschichte verliert, erzählt ein buntes Gedenkalbum weiter, La sidérurgie luxembourgeoise. Un siècle d’histoire et d’innovation. Arcelor-Mittal verschenkte es unter anderem an die Gäste seiner Geburtstagsfeier in der Escher Rockhal.
Die Rockhal steht auf der Industrie[-]brache, die der Übergang von den voll integrierten Schmelzen zu flexibleren Elektroöfen in den Neunzigerjahren hinterließ und der „die ganze Nation bewegt“ habe, wie es im Album heißt (S. 70). Noch weit bewegter wurde die [-]Nation von den kurzlebigen Kriegserklärungen, offenen und verdeckten Kampagnen, Parlamentsdebatten, vollmundigen Erklärungen, raschen Kehrtwenden, weißen Rittern und Stich[-]tingen, mit denen die inzwischen [-]französisch-spanisch-luxemburgisch gewordene Arcelor Teil von Arcelor-Mittal wurde. Aber die Übernahmeschlacht wird mit gerade einem Satz als „Unterzeichnung eines Fusions[-]abkommens im Juni 2006“ erwähnt (S. 78).
Heute ist Arcelor-Mittal Weltmarktführer, wenn auch eines noch immer sehr zersplitterten Markts. Sie walzt Langstahl in Belval, Differdingen, Schifflingen und Rodingen, galvanisiert Bleche in Düdelingen, zieht Draht in Bissen und Bettemburg und verarbeitet Bleche in Differdingen. Paul Wurth baut Hochöfen, Circuit Foil stellt Kupferfolien für Schaltkreise her, Sotel versorgt die Werke mit Strom, in Dommeldingen befinden sich Werkstätten und in Differdingen liegen Stahlträger für Kunden in ganz Europa auf Halde.
Doch Luxemburg ist nicht mehr das Zentrum einer international aktiven Gruppe, sondern ein Mosaiksteinchen in einem Weltkonzern. Deshalb hängen an den ausführlich in dem Buch gewürdigten schwersten Grey-Trägern und den längsten Spundwänden alle Hoffnungen, dass weiterhin in Luxemburg Stahl produziert wird, mit dem Wolkenkratzer in New York gebaut und Venedig vor dem Untergang gerettet werden sollen. Und neuerdings an dem Stahlträger „Angelina“, der seinen Namen seiner „sinnlichen Form“ verdankt (S. 133).