„Was hätte das geändert?“, fragte Nico Reuter am Dienstag zurück, als ihn Journalisten fragten, wieso die Konzernleitung bis nach der 100-Jahre-Feier der Arbed vor zwei Wochen gewartet hatte, um die zeitweilige Stilllegung des Schifflinger Elektro-Stahlwerks sowie der Walzstraße STFS und der Straße C in Rodingen anzukündigen. Damit hat Reuter, Vize-Präsident der Langstahlsparte Europa, die Situation in vier Worten zusammengefasst. Die Stilllegung ist eigentlich beschlossene Sache. Während die Konzernführung das mittlere Management an die Front schickt, um die Entscheidung vor der Personalvertretung und der Presse zu verteidigen, informieren die Gewerkschaften OGBL und LCGB, die bislang in der Stahlbranche im Rahmen der Sidérurgie asbl gemeinsam für die Rechte der Beschäftigten kämpften, separate Informationsveranstaltungen. Der Regierung, die Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter am 11. Oktober zur Stahltripartite trifft, wird nicht viel anderes übrig bleiben, als auf die schnelle Ausarbeitung eines Nachfolgeabkommens für Lux2011 hinzuarbeiten – Ende des Jahres nämlich läuft das aktuelle Abkommen aus, das als legale Grundlage für die Mitfinanzierung der Cellule de reclassement (CDR) durch den Beschäftigungsfonds dient.
Sichtlich unangenehm war Reuter und Jean Schummers, Geschäftsführer von Arcelor Mittal Rodange Schifflange (AMRS), am Dienstag der Gang vor die Presse. Wahrscheinlich nicht nur deshalb, weil ihnen die Rolle der Hiobsbotschafter missfiel, sondern weil ihnen bewusst war, dass es an der Stichhaltigkeit ihrer Argumente hapert. Nachdem diese vorgetragen waren, konnte man sich fragen, ob Arcelor Mittal vorhat, strukturellen Problemen mit Konjunkturmaßnahmen entgegenzuwirken, oder ein Konjunkturtief mit strukturellen Maßnahmen bekämpft.
Ab Oktober sollen die genannten Werke stillstehen, auf der Walzstraße A nur noch in zwei Schichten gearbeitet werden. Bis Ende Dezember werden deshalb 450 Mitarbeiter in die CDR – die betriebsinterne Auffangstruktur – überwiesen. Die Ursachen: Seit August habe sich das Geschäftsklima deutlich verschlechtert, so Reuter. Man befürchte einen neuerlichen Auftragseinbruch. Die Kunden seien durch die Turbulenzen am Finanzmarkt verunsichert, leerten deshalb zunächst ihre Lager anstatt neue Ware zu bestellen. Rodingen und Schifflingen, die Baustahl herstellen, litten unter der Flaute der Immobilienbranche. Weil wegen der staatlichen Sparprogramme in der EU die Investitionen in große Infrastrukturprojekte entweder aufgeschoben oder aufgehoben wurden, blieben weitere Bestellungen aus.
Um zu verhindern, dass sich die Situation so weit verschlechtere wie 2010, als AMRS 38,5 Millionen Euro Verlust machte (2009: -39,3Millionen Euro), müsse man jetzt agieren, erklärte Reuter. Im vierten Quartal 2011 wolle das Management die Situation neu bewerten. Dann werde entschieden, ob die Werke auch Anfang 2011 ruhen oder wieder angefahren werden, bemühte sich Reuter zu betonen. Es handele sich um befristete Maßnahmen. Da aber für die Wintermonate von Januar bis März schon allein aufgrund der Wetterbedingungen ein Bauboom nicht zu erwarten ist, konnte auch er nicht ausschließen, dass die betroffenen Werke bis zum Frühling stillstehen.
Wie stark die Konjunktur anziehen muss, damit die Werke wieder angefahren würden, konnten weder er noch Schummers am Dienstag sagen. Wie auch, erklärten sie doch, es gebe in der europäischen Baustahlbranche ein strukturelles Problem, die Überkapazitäten seien hoch. Bei einem Jahresverbrauch von derzeit 15 Millionen Tonnen und Produktionskapazitäten von 29 Millionen Tonnen jährlich seien es fast 100 Prozent.
Angesichts dieser Angaben wundert es nicht, wenn Gewerkschaften und Mitarbeiter kaum an eine nur vorübergehende Stilllegung glauben wollen. „Wenn wir die Geschäftsleitung fragen, wann die Werke wieder angefahren werden sollen, kann sie uns kein Datum nennen“, sagt Patrick Dury, LCGB-Generalsekretär. Das, so sein Verdacht, liege daran, dass die Geschäftsleitung eine Wiederinbetriebnahme gar nicht plane.
Auch beim OGBL ist man skeptisch; wegen der strukturellen Schwächen der Branche hatten die Sozialpartner am 16. Juni ein Zusatzabkommen zu Lux2011 unterzeichnet, das den Abbau von 262 Vollzeitstellen bei AMRS sowie Investitionen vorsah, die den Umstieg auf edlere Produkte ermöglichen sollten. Dieser Rettungsplan ist bis dato nicht ganz ausgeführt. Von den 450 Beschäftigten, die ab Oktober bis Ende des Jahres in die CDR wechseln sollen, sind eigentlich 321 von der konjunkturellen Stilllegung betroffen. Die anderen 139 sind solche Mitarbeiter, deren Stellen im Rahmen des Juni-Abkommens abgebaut werden, das also noch nicht einmal zur Hälfte umgesetzt wurde, bevor die Stilllegung entschieden wurde. Deswegen forderten OGBL und LCGB am Dienstag die vollständige Umsetzung des Rettungsplans.
Zwar beteuerte Reuter am Dienstag, die darin angekündigten Investi-tionen würden getätigt. Damit die Arbeiten stattfinden können, müsse die Produktion allerdings laufen, räumte Schummers ein. Die Werke auf die Herstellung von Produkten mit höherem Mehrwert umzustellen, sei zudem ein langwieriger Prozess, versuchte Reuter zu erklären, warum die Fertigung solcher Produkte auch nach den Ankündigungen vom Juni nur zehn bis 15 Prozent der Gesamtproduktion darstelle. Den Markt und die Nachfrage dafür müsse man sich erst schaffen; daran arbeiteten die Verkaufsabteilungen, so der Manager. Dass das bislang keine Priorität gewesen sein kann, lässt sich auch an den Produktbroschüren erkennen, die Kunden auf der Webseite von Ares runterladen können: Sie tragen noch das Logo von Arcelor, stammen demnach aus der Zeit vor 2006.
Setzt man die Geschehnisse in Luxemburg in den internationalen Kontext, in dem der Konzern tätig ist, erhärtet sich der Verdacht auf eine unbefristete Schließung. Vergangenen Freitag informierten Arcelor-Mittal-CEO Lakshmi Mittal und CFO Aditya Mittal von London aus die Anleger über die Aussichten in den kommenden Monaten. Um das Betriebsergebnis bis Ende 2012 um eine Milliarde zu steigern und den Konzern für die von ihnen erwartete konjunkturelle Verlangsamung zu rüsten, soll die Produktion auf die Werke mit den niedrigsten Produk-tionskosten konzentriert werden. Neben Rodingen und Schifflingen werden Hochöfen und Werke in Spanien, Deutschland und Frankreich heruntergefahren. Durch die gesteigerte Produktionsintensität in den „Kernwerken“ werde man dennoch in der Lage sein, die Nachfrage zu bedienen.
Zwar versicherte auch Lakshmi Mittal am Freitag, dabei handele es sich um befristete Stilllegungen. Doch wer soll angesichts dieser Aussagen noch glauben, Werke mit hohen Produktionskosten würden noch mal angefahren, wenn die Nachfrage durch die „billigen“ Werke gedeckt werden kann? Zumal Mittal selbst meinte, sollte man sich trotzdem zu definitiven Schließungen entscheiden, müsse man darüber mit den Sozialpartnern diskutieren.
Unterdessen zeichnet sich immer deutlicher ab, dass der Konzern in Europa auf dem Rückzug ist. „Brasilien und Indien“ sind die Gebiete, in denen Arcelor Mittal wachsen will. CFO Aditya Mittal versprach den Anlegern zudem, Investitionen auf die wachsende Bergbausparte zu konzentrieren; durch die Rohstoffgewinnung lassen sich schneller, höhere Erträge erwirtschaften als durch die Stahlproduktion. Wirklich viel Mut machten diese Botschaften den Börsenanlegern aber nicht. Zwar stieg der Kurs der Arcelor-Mittal-Aktien kurzfristig etwas an. Doch in den vergangenen Monaten büßten die Papiere die Hälfte ihres Wertes ein. Der Kurs schwankte diese Woche zwischen 16 und 17 Dollar. Werte, an denen die Mittal-Familie als Mehrheitsak-tionär kaum Freude haben dürfte.
Umso schwerer dürfte es Gewerkschaften und Regierung bei der Stahl-Tripartite fallen, dem Konzern substantielle Investitionen in die Werke Differdingen und Belval abzutrotzen. Sogar wenn, wie manche hinter vorgehaltener Hand munkeln, man im Gegenzug AMRS dafür aufgeben würde. Einen Tauschhandel, den Manager wie Nico Reuter und Jean Schummers suggerieren, wenn sie sagen, die Verluste in Rodingen und Schifflingen könnten durch die Gewinne in Differdingen und Belval nicht mehr wettgemacht werden. Zwar gelten die Installationen in Differdingen und Belval derzeit noch als einzigartig, was die dort hergestellte Produktpalette betrifft. Doch die Elektrostahlwerke in Differdingen und Belval haben ebenfalls ein gewisses Alter erreicht, und falls nicht in die Walzwerke investiert wird, könnte dort in nicht all zu ferner Zukunft die gleiche Situation drohen wie jetzt bei AMRS.
Dabei zeigte sich schon in den Verhandlungen um Lux2011, dass der Konzern nicht mehr bereit war, so viel zu investieren wie in den Vorjahren. Vor dem Abschluss der Verhandlungen über Lux2011 Ende 2008 hatte Arcelor-Mittal-Vorstandsmitglied Michel Wurth erklärt, in den kommenden Jahren müssten durch gesteigerte Produktivitätsraten erst die Investi-tionen über rund eine Milliarde Euro rentabilisiert werden, die seit Mitte der Neunziger in Luxemburg getätigt wurden. Das Investitionsniveau von einem Rahmenabkommen zum nächsten sank deutlich; in Lux2011 wurden noch rund 70 Millionen Euro Investitionen für die Luxemburger Standorte in Rodingen, Schifflingen, Differdingen, Belval, Düdelingen, Bettemburg und Bissen veranschlagt. Ein weiterer Hinweis darauf, dass weder die Luxemburger Regierung und ihr Vertreter im Verwaltungsrat, noch die anderen Luxemburger in den Konzerngremien wirklichen Einfluss auf den Entscheidungsprozess bei Arcelor Mittal nehmen können.
Wenn Arcelor Mittal nun angekün-digt, die Maßnahmen durch die Überweisung der Mitarbeiter in die CDR sozial verträglich zu gestalten, nimmt der Konzern vorweg, dass die Regierung bereit ist, die CDR in den kommenden Jahren ebenso großzügig mitzufinanzieren, wie in der Vergangenheit. Der Stahlproduzent fragt keine Kurzarbeit beim Konjunkturkomitee an. Im Gegenzug wird die betriebsinterne Auffangstruktur CDR vom Beschäftigungsfonds mitgetragen. Die Modalitäten dazu werden in den jeweiligen „Lux“-Abkommen festgehalten; Lux2011 läuft zum 31. Dezember aus. Ist bis dahin kein neues Abkommen unterzeichnet, fehlt es der CDR ab Januar an den nötigen Mitteln, um die voraussichtlich rund 600 Mitarbeiter auf unbestimmte Zeit aufzunehmen. Arcelor Mittal verlässt sich darauf, dass die Allgemeinheit den Abbau bei AMRS mitträgt oder in Kauf nimmt, dass die Mitarbeiter auf der Straße stehen. Denn die im Staatshaushalt für 2011 veranschlagten 37,35 Millionen Euro, mit denen der Staat der Stahlbranche vor allem durch die Finanzierung der Vorruhestandsregelung hilft, übersteigen die 23,8 Millionen Euro Dividenden, die der Staat als Aktionär kassiert, deutlich.
Wäre Arcelor Mittal kein Stahlkonzern sondern eine Bank, würde dem Konzern angesichts dieser Methoden viel deutlicher vorgeworfen werden, die Gewinne zu privatisieren und die Verluste zu vergesellschaften. Dabei schreibt Arcelor Mittal, anders als die während der Finanzkrise geretteten Banken, noch nicht mal Verluste, sondern stellt den Anlegern für das dritte Quartal ein Ergebnis vor Steuern und Abschreibungen von 2,8 Milliarden Dollar in Aussicht.
Doch in ihrer Hilflosigkeit gegen[-]über der Profitlogik schieben die Gewerkschaft lieber der Regierung die Verantwortung zu, anstatt gemeinsame Front gegen den Arbeitnehmer zu machen. Beim piquet d’information vor dem Lallinger Werkstor meinte Jean-Claude Bernardini vom OGBL, die Regierung müsse von Arcelor Mittal nicht nur die Umsetzung des Rettungsplans, sondern die Einhaltung der 2006 bei der Arcelor-Übernahme gegebenen Garantien zum Erhalt der Luxemburger Produktionsstandorte einfordern.
Die gleiche Botschaft gab der LCGB seinen Mitgliedern bei einer separaten Versammlung in Stadtzentrum von Esch mitauf den Weg. Damit scheint die jahrelange Zusammenarbeit der beiden Gewerkschaften in der Sidérurgie asbl, die noch im Juni die Mitarbeiter über den Rettungsplan informiert hatte, vorbei zu sein. „Wir wollen der Geschäftsleitung zeigen, dass sie es mit einer Gewerkschaft zu tun hat, nicht mit einem Verein“, erklärte Bernardini am Dienstag und wies darauf hin, dass der OGBL in der Stahlbranche über mehr Mitglieder verfüge als der LCGB. Da konnte, aller Aufrufe zur Solidarität zum Trotz, der Eindruck entstehen, auch die Gewerkschaften verteidigten vor allem eins: ihre Geschäftsgrundlage.