Kein Fraktionszwang zum Euthanasie-Votum

Das francksche Paradox

d'Lëtzebuerger Land du 18.10.2007

Da wollte die CSV, der noch immer der Ruf vorausgeht, autoritär, dogmatisch und moralisierend zu sein, sich ausdrücklich weltoffen,tolerant und aufgeklärt geben. Und prompt sorgte ihre Betzdorfer Deputierte Marie-Josée Franck für Furore, als sie die Zeichen der Zeit verkannt zu haben schien und vorschlug, Befürworter der Euthanasie aus der Partei auszuschließen. 

Wäre Francks Vorschlag die Parteilinie gewesen, hätte es alle Gegner und wohl selbst viele Freunde weniger überrascht. Wie die Parteilinie lautete, verbreitete deshalb am 9. Oktober das Wort: „Staatsminister Jean-Claude Juncker hatte persönlich gesagt, in der Frage der Sterbebegleitung müsse jeder nach seinem Gewissen abstimmen. Einen Fraktionszwang werde es in dieser Angelegenheit nicht geben.“ Da war der Premier für einmal einer Meinung mit Fraktionssprecher Michel Wolter, der daran erinnerte, dass es beim Gesetzesvorschlag über die aktive Sterbehilfe „bei der CSV keinen Fraktionszwang geben“ werde.

Die CSV, aber auch sämtliche anderen Parteien bis hin zur ADR betonen nicht ohne Stolz, dass sie in der Frage der Sterbebegleitung ihre Abgeordneten vom Zwang befreien, so abzustimmen, wie es die Fraktion vorschreibt, und sie frei nach ihrem Gewissen entscheiden dürfen. Weil besondere Umstände besondere Maßnahmenverlangen, scheint also am Krautmarkt ausnahmsweise Gewissensfreiheit zuherrschen. Für die CSV hatte Jean-Claude Juncker das vergangene Woche in einem Fernsehinterview so erklärt: Das Thema Tod sei zu wichtig, als dass Parteifraktionen den Abgeordneten vorschreiben dürften, wie sie entscheiden sollten.

So einleuchtend das klingen mag, ist es doch paradox. Denn es fragt sich, weshalb überhaupt ein Fraktionszwang notwendig ist, wenn er sowieso nur unwichtigen Themen vorbehalten bleiben soll. Doch noch überraschender ist, dass die Parteien stolz auf etwas verzichten, dessen Existenz sie sonst weitgehend abstreiten: den Fraktionszwang. Denn bisher hörte man noch nie Politiker vor der Abstimmung über einen Gesetzentwurf ankündigen, dass ihre Fraktion ihre Abgeordneten zwingen würde, dafür beziehungsweise dagegen zu stimmen. 

Von Fraktionszwang geht weder die Rede in den Parteistatuten der CSV, noch der LSAP, der DP, der Grünen oder der ADR. Lediglich die Grünen hatten in ihrer Anfangsphase, als sie noch Antipartei sein wollten, neben dem Rotationsprinzip das imperative Mandat vorgesehen. Das vor allem in den Ständeversammlungen des 19. Jahrhunderts gepflegte imperative Mandat sieht vor, dass Abgeordnete in der repräsentativen Demokratie nicht nach ihrer persönlichen Überzeugung, sondern nach ihrem Wählerauftrag abstimmen. Doch vom imperativen Mandat sind die Grünen längst ebenso abgekehrt wie vom Prinzip, dass Abgeordnete im Laufe einer Legislaturperiode ihr Mandat den Nächstgewählten überlassen. Inder internen Geschäftsordnung der grünen Fraktion heißt es sogar liberal: „Abgeordnete dürfen im Rahmen ihrer parlamentarischen Aktivitäten eine abweichende Meinung zum Fraktionsbeschluss einnehmen, falls diese nicht gegen die Prinzipien der Grundsatzerklärung verstößt. Bei Abstimmungen müssen sich die Abgeordneten an die Grundsatzerklärung und das Wahlprogramm halten.“

Schenkt man den je nach Umständen unterschiedlichen Aussagen der Parteien Glauben, scheint es paradoxerweise den Fraktionszwang also nur zu geben, wenn er ausnahmsweise außer Kraft gesetzt wird, wenn esihn also gerade nicht gibt. Im Regelfall, wenn der Fraktionszwang angewandt wird, wenn es ihn also gibt, gibt es ihn dagegen, zumindest offiziell, eigentlich nicht.

Damit nicht genug. In Wirklichkeit brüsten sichderzeit die CSV und die anderen Parteien damit, ausnahmsweise auf etwas zu verzichten, was es weder in der Regel, noch inder Ausnahme geben darf, was eindeutig verboten ist. Denn ebenso wenig wie die Parteisatzungen kennt die Verfassung einen Fraktionszwang. Die Verfassung stammt aus einer Zeit, als es noch keine Parteien gab, sondern lediglich Notabeln, die eher klerikal oder eher liberal gesinnt waren, die Interessen der Grundbesitzer, der Industrie, des Klerus oder der Verwaltung verteidigten und der Regierung je nach Gesetz und punktuellen Gegenleistungen wechselnde Mehrheiten im Parlament verschafften. Deshalb kennt die Verfassung – zumindest bis zur bevorstehenden Regelung der Parteienfinanzierung – lediglich die individuellen Abgeordneten, nicht aber Parteien oder Fraktionen und folglich auch keinen Fraktionszwang. Sie schreibt vielmehr in Artikel 50 vor: „Les députés votent sans en référer à leurs commettants et ne peuventavoir en vue que les intérêts généraux du Grand-Duché.“ 

Noch unmissverständlicher ist Artikel 166 des Kammerreglements, der besagt: „Les députés exercent leur mandat de façon indépendante. Ils ne peuvent être liés par des instructions ni recevoir de mandat impératif.“ Doch die Herren Juncker, Wolter und andere werden nicht mit einer vom Kammerreglement verbotenen „Anweisung“ zitiert, sondern mit dem Begriff „Zwang“. Es kann also keine  Rede sein von einer gemeinsam in der Fraktion ausgehandelten Kompromisshaltung in eine Frage. Gemeint ist ein Druckmittel, um Abgeordnete dazu zu bringen, etwas gegen ihren Willen zu tun. Nicht auszudenken, wenn sich eine Instanz fände, die zuständig wäre, all jene Gesetzefür ungültig zu erklären, die unter Fraktionszwang gestimmt wurden ...

 

Romain Hilgert
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