Wenn Ehrenstaatsminister Jacques Santer einen Buchladen betritt,dürfte dem ehemaligen Vorsitzenden der Europäischen Kommissionnicht ganz wohl zumute sein. Denn in der Regel muss ein Politiker tot sein, bevor seiner derart reichhaltig mit Literatur gedacht wird: Klaus Emmerich, Europa neu. Das Konzept des Präsidenten der EU-Kommission Jacques Santer (Wien, 1995), Didier Romand,Jacques Santer ou l’Europe de l’an 2000 (Paris,1998), Anne Schmitt, Jacques Santer. Portrait intranquille (Luxemburg, 2005) – und nun kommen zwei weitere Titel hinzu.
Die CSV steht bei Jacques Santer in der Schuld. Weil sie ihn, anders als die französische Regierung ihre Kommissarin Édith Cresson, nicht retten konnte, als er mit seiner Kommission in Brüssel Schiffbruch erlitt. Und weil sie ihn anschließend auch noch überredete, Schiffbruch im hauptstädtischen Gemeindewahlkampfzu erleiden.
Deshalb feierte die Partei im Frühjahr Santers 70. Geburtstag ohnefalsche Bescheidenheit. CSV-Fraktionssekretär, Cercle-Joseph-Bech-Aktivist und Santers ehemaliger Referentim Europaparlament Frank Engel trug die Festschrift für JacquesSanter (Luxemburg, 2007) zusammen, in der vom Erzbischof Fernand Franck über ausgewählte CSV-Größen bis zu Mudam-Direktorin Marie-Claude Beaud alle Santer einen flinkgeflochtenen Strauß Nettigkeiten zu Füßen legen. Der Präsident Taiwans nennt Santer "eine globale Ikone der Freiheit und sozialenWerte" (S. 113), und „Ehrenabt und Schutzpatron des Klosters La Claustra an strategischem Ort auf dem Gotthard“ ister auch (S. 75).
Möglicherweise hat Santer das verdient. Denn als Oppositionsabgeordneter stimmte er 1979 gegen die Mehrheit seiner CSV-Fraktion für die Abschaffung der Todesstrafe. Und sein überstürzter Abgang lässt seine elfjährige Regierungszeit als ein Interregnum erscheinen, das sie nicht war. Thomas Schmitz, dessen Diplomarabeit La Commission européenne La présidence de Jacques Santer (1995-1999) von den Éditions Codex des Cercle-Joseph-Bech-Aktivisten Marc Rauchs verlegt wurde, erinnert daran, dass die Kommission Santer den größten Fortschritt in der europäischen Integration seit 40 Jahren organisierte, die einheitliche Währung.
Jean-Claude Juncker gehört zu jenen, die bei der Laudatio auf Santervor allem von sich selbst schreiben. Jacques Santer ist für ihn vor allem „ein toleranter Christ“ und „ein gestandenerSozialpolitiker“ (S. 18). André Heiderscheid bedankt sich,dass Santer so nachdrücklich wie kein Politiker vor ihm die Zwangsrekrutierung ein Verbrechen nannte und damit die Zwangsrekrutierten als Opfer ansah (S.122). Und HeiderscheidsNachfolger, Léon Zeches, lobt Santers „christliche Standfestigkeit“,die „für manchen sich christlich nennenden Politer von heutzutageeine persönliche wie parteikollektive Zumutung“ sei (S. 161).Wenndamit nicht Santers Nachfolger Juncker gemeint ist, den das Glockengeläute des Liebfrauendoms beim Arbeiten stört…
Doch womit verdient ein Premierminister eigentlich sein Geld? Rückblickend auf sein Veto von 1988 gegen die Steuerharmonisierung und die Abschaffung des Bankgeheimnissesmeinte Santer gegenüber seinem damaligen Vize Jacques F. Poos,er habe den Banken und der Staatskasse zehn Jahre Zeit verschafft und damit sein Gehalt und seine Pension zur Genüge verdient (S. 52). Im gleichen Fach Diplomatie eröffnete Santer dem ehemaligen israelischen Botschafter Avi Primor gleich bei dessen Akkreditierung, dass er „pro-israelisch“ sei, und zwar auch, weil er in Israel seine spätere Ehefrau kennen gelernt habe (S. 46). CSV-Präsident François Biltgen entwirft eine Theorie, laut der Premier Pierre Werner mit seiner Partei, Jacques Santer in seiner Partei und Jean-Claude Juncker über seiner Partei gestanden hätten (S. 197). Was davon Lob und was Tadel sein soll, ist schwierig auszumachen. Denn laut Biltgen sei Santer erst Parteimitglied geworden, als er Fraktionssekretär wurde (S. 200).
Biltgen bescheinigt Santer, als Parteivorsitzender der Modernisierer der Partei nach der Wahlniederlage von 1974 gewesen zu sein, um dann von „Gottvater“ Werner autoritär und gegen den Widerstand eines Teils der Fraktion zum „Sohn Gottes“, das heißt zum nächsten CSV-Premier auserwählt worden zu sein (S. 204). Scheinbar beiläufig erwähnt er, dass Juncker Santer vor der verhängnisvollenKandidatur zu den hauptstädtischen Gemeindewahlen gewarnthabe (S. 210), und richtet so wieder den Verdacht auf Luc Frieden.Dass Santer die typografische Katastrophe des Währungssymbols für den Euro persönlich ausgewählt hatte, hebt der Präsident der Europäischen Volkspartei, Wilfried Martens, stolz hervor (S. 69). Und macht die Sozialisten für die beinahe gescheiterte Wahl und den späteren Sturz der Kommission Santer verantwortlich.
Dagegen bescheinigt Thomas Schmitz der Kommission Santer,Fehler beim Umgang mit der Rinderwahn-Krise begangen zu haben,hält sie aber für nicht schlimmer als die Fehler ihrer Vorgängerinnen (S. 173).Auch die schließlich zum Sturz der Kommission geführten Betrugsvorwürfe hätten nicht zur Vertrauenskrise geführt, sondern Ungeschicklichkeiten, Zögern und Unklarheiten, meint Schmitz unter Berufung auf einen gewissen Jean Nicolas (S. 178).