Als Peripherie ohne Zentrum macht sich in Luxemburg die große Geschichte vor allem durch Nachbeben bemerkbar. Die Ausläufer von Mai ’68 ließen das Großherzogtum erst 1973 erzittern, als am 9. Oktober gegen den Mief des CSV-Staats gestreikt wurde. Die Folge davon war, dass ein Jahr später die liberale Familie Thorn der Nation zum zweiten Mal einen Premierminister schenken
durfte – nach Victor Thorn 1916.
Als Gaston Thorn 1974 Premierminister wurde, war er etwa so alt wie John F. Kennedy bei dessen Vereidigung zum Präsidenten der USA. In den Jahren danach nannte er sich vorübergehend Gaston E. Thorn. Mit 45 erschien der elegant gekleidete, redegewandte, manchmal geradezu tänzelnde Thorn, der Mikrofone und Kameras, den Glanz der Großen dieser Welt suchte, einer ganzen Generation Jungwähler jugendlich, dynamisch, weltoffen, reformfreudig und zukunftsgewandt. Ein Nachbeben der kurzen, schnell idealisierten Kennedy-Ära, das den 60-jährigen Anführer der CSV, Pierre Werner, noch älter, steifer, verstockter und konservativer erscheinen ließ. Die CSV brauchte Jahrzehnte, bis sie ihm das verzieh.
„Die Reformen, die [Thorn] analysierte, erklärte, für die er plädierte – weil er immer ein wenig Anwalt blieb – stießen auf Widerstände“, erinnerte einer seiner Nachfolger, Premier Jean-Claude Juncker, am Sonntag in einer feierlichen Fernsehansprache.
Juncker meinte damit die Widerstände seiner eigenen Partei. Sie hatte samt ihrer Fregatten, von Luxemburger Wort über Action famiale et populaire bis Pour la vie naissante, fünf Jahre lang aus allen Rohren auf Thorn und dessen Regierung geschossen, ihr Sittengefährdung und Bedrohung der inneren Sicherheit vorgeworfen. Doch „in dem meisten, was Gaston Thorn tat – fast in allem – hat er im Grunde, mit dem Blick von heute, Recht gehabt, dass er es tat“, desavouierte Juncker demonstrativ einen seiner Vorgänger, Pierre Werner und die CSV. Juncker gab in der CSV schon immer lieber, wenn nicht den Kennedy, so zumindest
den Thorn als den Werner.
Die Luxemburger Gesellschaft brauchte in den Siebzigerjahren einen Modernisierungsschub. Der flinke Anwalt Gaston Thorn hielt
sich seit dem Bettemburger DP-Kongress 1971 bereit, um im richtigen Augenblick an der richtigen Stelle zu sein und ihn mitanzustoßen, gar zu verkörpern.
Heute wirkt es wie Ironie der Geschichte, dass ein liberaler Premier 1975 die automatische Indexanpassung der Löhne verallgemeinerte. Aber er institutionalisierte auch den antiliberalen Höhepunkt des in den Zwanzigerjahren begonnenen nationalen Korporatismus, die Stahltripartite. Thorn schien eingesehen zu haben: Wenn es heißt, die größte Industrie des Landes unter Vermeidung eines sozialen Erdbebens zu sanieren, ist Liberalismus nur Ideologie.
Thorns Regierung verbesserte auch die rechtliche Stellung der Frauen und schaffte die Todesstrafe ab. Doch der reformerische Elan der DP/LSAP-Koalition zerbrach rasch an der großen Wirtschaftskrise Mitte der Siebzigerjahre. Aber selbst das sollte noch modern klingen, weil die Schaffung des Arbeitslosenfonds, der Notstandsarbeiten und der SNCI „Krisenmanagement“ getauft wurde.
Eigentlich gehen die tiefstgreifenden Reformen der sozialliberalen Koalition auf das Konto von LSAP-Ministern, wie Benny Berg und Robert Krieps. Trotzdem erlitt die LSAP 1979 ihre schlimmste Wahlniederlage. Deshalb verzeiht sie es sich bis heute nicht, dem kleineren Koalitionspartner den Regierungsvorsitz überlassen zu haben. Aber damit sollte 1974 nicht nur dem bürgerlichen Publikum die Angst genommen werden, dass umgehend der Bolschewismus ausbräche. Es war auch das Eingeständnis, dass
die gerade gespaltenen Sozialisten keinen Politiker vom Format Thorns aufbringen konnten.
Weil Thorn das Symbol war, dass der CSV-Staat nicht gottgewollt ist, dass es für DP und LSAP eine Fluchtmöglichkeit aus der babylonischen Gefangenschaft der CSV-Koalitionen gibt, ist auch für die DP die Ära von Premier und Parteichef Thorn, Wirtschaftsminister Marcel Mart und Fraktionssprecherin Colette Flesch im Rückblick die goldene Zeit ihrer Geschichte. Obwohl sich seither kein Vorsitzender mehr traut, seine Partei „linksliberal“ zu nennen. Aber das war auch in den Siebzigerjahren
keine Frage des Muts, sondern des Zeitgeistes.
Mit Thorns Hilfe war die DP von der kleinen Krämerlobby zur modernen liberalen Partei geworden. Sie erschloss eine neue Wählerbasis in den abhängig beschäftigten Mittelschichten und verdoppelte innerhalb von zehn Jahren ihren Stimmenanteil.
Heute wird gerne vergessen, dass Thorn sich immer wieder gegen einen rechten Block in der eigenen Partei durchsetzen musste, der viele Reformen der sozialliberalen Koalition bekämpfte. Und Thorn in seinen letzten Lebensjahren den Kurs seiner Partei öfters angezweifelt hatte. Gaston Thorn verstarb am Wochenende im Alter von 78 Jahren.