Er sei traurig, sagte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker am Sonntag, nachdem sich in Brüssel die Staats- und Regierungschefs auf das Austrittsabkommen für Großbritannien aus der EU und die politische Erklärung über die zukünftigen Beziehungen geeinigt hatten. Dass Großbritannien die EU verlasse, sei eine „Tragödie“. Dabei ist noch nicht endgültig geklärt, wie dramatisch die Tragödie wird. Die Möglichkeit eines sogenannten harten Brexit, dass die Briten am 29. März aus der EU herausfallen, ist trotz der Einigung vom Sonntag nicht ausgeschlossen.
Denn das Europäische und vor allem das britische Parlament müssen dem Austrittsabkommen, das einen geordneten Austritt erlauben würde, noch zustimmen. Dass eine Mehrheit britischer Abgeordneter das tut, scheint derzeit unwahrscheinlich. Auf allen Seiten im britischen Parlament gibt es Abgeordnete, die gegen das Austrittsabkommen sind, wenn auch aus sehr unterschiedlichen Gründen. Es gibt diejenigen, die möchten, dass Großbritannien EU-Mitglied bleibt, und ein zweites Referendum über das Austrittsabkommen wollen. Es gibt diejenigen, die zwar aus der EU heraus, beziehungsweise das Ergebnis des ersten Referendums respektieren wollen, aber nur halbherzig, und denen das Abkommen daher zu drastisch ist. Es gibt diejenigen, die finden, es gebe nicht genug Sicherheiten dafür, dass auf der irischen Insel keine Grenzkontrollen zwischen der Republik Irland und Nordirland eingeführt werden, wodurch der Zusammenhalt im United Kingdom immer bröckeliger würde. Und dann gibt es die Brexit-Hardliner, denen die Austrittsvereinbarung nicht weit genug geht.
Aus dem europäischen Blickwinkel heraus, sind Letztere besonders schwierig zu verstehen, weil ihnen mit Vernunft und Logik nicht beizukommen ist. Sie hatten vor dem Referendum 2016 damit Kampagne gemacht, dass Großbritannien von einem EU-Austritt materiell profitiere. Dass sich relativ schnell das Gegenteil erwies, da Großbritannien beispielsweise von Lebensmittelimporten aus der EU abhängt oder das Gesundheitssystem von europäischen Ärzten und Pflegern getragen wird, ließ sie nicht einmal blinzeln. Der Gefahr leerer Supermarktregale und eines zusammenbrechenden National Health Service (NHS), dem ganzen Stolz des (verbleibenden) britischen Sozialstaats, blicken sie mit Freude entgegen, weil sie erstens bestätigt, dass die EU der Feind ist, der den Briten schadet – one way or another – und sie ihnen zweitens erlaubt, im Angesicht des äußeren Feindes die Blitzkrieg-Mentalität heraufzubeschwören, die Legende von britischen Zusammenhalt, Ausdauer und Erfindungsgeist, der den Briten erlaubte, den deutschen Luftangriffe während des Zweiten Weltkriegs zu widerstehen.
Darin liegt die Tragödie, welche die Briten nie richtig überwunden haben: dass sie als Kriegsgewinner noch Lebensmittelmarken nutzen mussten, während die Deutschen dank Wirtschaftswunder schon wieder Würste im Überfluss aßen. Die Briten entgingen zwar einer deutschen Besatzung, während die Zerstörung auf dem Kontinent groß war. Aber die Nachkriegsjahre waren eine schwierige Zeit, in der, was den Krieg überstanden hatte, nicht ersetzt wurde. So kommt es vor, dass in London noch heute ganze Straßenzüge überflutet werden, weil viktorianische Wasserleitungen platzen und nur mit großer Mühe zu reparieren sind. Solcherlei viktorianische Wasser- und Abwasserinfrastruktur kommt durch die Briten vom Nazi-Joch befreiten Europäern genauso rückständig vor, wie einmal verglaste Aufziehfenster und die Eigenart, zum Abwasch eine Plastikschale ins Spülbecken zu setzen, statt den Überlauf ans Abflussrohr anzuschließen. Aber sie stammen aus der Zeit, in der britische, nicht deutsche, Ingenieure Vorsprung durch Technik ermöglichten, und sie von ihrer kleinen Insel in der Nordsee aus ein Imperium beherrschten, in dem indische Maharajas ihren Tribut mit Edelsteinen in Hühnereigröße zollten. Addiert man dazu die britische Faszination mit Adolf Hitler, die sich aus der schieren Anzahl von Hitler-Biografien in jeder britischen Bücherei beziehungsweise an der Anzahl von Hitler-Fernsehdokumentationen herauslesen lässt, ergibt sich daraus ein Insel-Psyche, die erklärt, warum Theresa May mit ihrem Austrittsabkommen als Verräterin und „Appeaser“ einer nicht vertrauenswürdigen, da von Deutschland dominierten EU beschimpft wird, die aber auch die anglophilsten Kontinentaleuropäer nicht mit der noch so großzügigen Austrittseinigung therapieren können.
Obwohl das Austrittsabkommen ohne Zweifel die schmerzfreieste Lösung sowohl für die EU, als vor allem auch für die Briten ist, ist deshalb nicht gesagt, dass Letztere am 11. Dezember dafür stimmen, weil zu Not ertragen, eine Frage nationaler Identität ist. Nach fünftägiger Parlamentsdebatte – hoher Unterhaltungswert garantiert – soll dann der sogenannte meaningful vote im Parlament stattfinden, dem, wenn er positiv ausgeht, eine zweite Abstimmung über einen Gesetzentwurf (Withdrawal Bill) zur Umsetzung der Austrittseinigung irgendwann vor dem 29. März 2019 folgen soll. Erst wenn dieses Votum geschafft ist, ist ein harter Brexit abgewendet. Ab dem 30. März könnten dann die richtigen Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen, beziehungsweise bis zu einem Dutzend Abkommen beginnen, mit denen die EU und Großbritannien ihre künftigen Beziehungen regeln wollen, und die auf den in der „politischen Erklärung“ festgehaltenen Grundsätzen aufbauen sollen.
Was aber, wenn die „bedeutsame Abstimmung“ negativ ausgeht? Dafür, was dann folgt, dafür gibt es die unterschiedlichsten Szenarien. Eines davon, das hinter vorgehaltener Hand geäußert wird, ist, dass dies eine drastische Reaktion auf den Finanzmärkten nach sich ziehe, welche die halbwegs rationalen Kräfte im britischen Parlament zur Besinnung und dazu bringe, in einem zweiten Schritt für einen Gesetzentwurf zur Umsetzung des Austrittsabkommens zu stimmen. Die Frage, wer dann eine solche Bill überhaupt ins Parlament einbringen soll, ist indes ungeklärt, weil die britische Premierministerin Theresa May nach einer Niederlage am 11. Dezember möglicherweise von der eigenen Partei entmachtet wird, beziehungsweise Neuwahlen ausrufen muss.
Für dieses Chaos-Szenario gibt es weitere Ausbaumöglichkeiten, weil der Europäische Gerichtshof noch Anfang 2019 eine aus Schottland weitergeleitete Frage beantworten will, ob die Aktivierung von Artikel 50, also des Austrittsprozesses, wieder rückgängig gemacht werden kann. Demnach könnte sich vor dem 29. März 2019 die Rechtslage ändern, was den Befürwortern eines Verbleibs in der EU (Austrittsabkommens-Gegnern) Rückenwind gibt. Beziehungsweise denjenigen, die glauben, ein Beitritt Großbritanniens zur Europäischen Freihandelsassoziation Efta nach dem Beispiel Norwegens sei die sanfte Alternative zum EU-Austritt. Dabei liegt der Teufel im Detail, denn laut Klageschrift geht es darum, ob ein Mitgliedstaat die Aktivierung von Artikel 50 rückgängig machen könnte und bisher zeichnet sich in besagten Mitgliedstaat die Bildung einer Regierung mit diesem Vorhaben nirgendwo ab.
Für die Regierungen der verbleibenden 27 EU-Staaten wie Luxemburg bedeutet dies, dass sie sich weiterhin sowohl auf einen geordneten, wie auf einen ungeordneten Rückzug Großbritanniens einstellen müssen. Und die Schwierigkeit dabei ist das Timing, wie Außenminister Jean Asselborn (LSAP) vergangene Woche bei der Parlamentsanhörung zu erklären versuchte. Da derzeit niemand weiß, ob und wann die Briten endgültig über das Austrittsabkommen abstimmen, ist ungewiss zu welchem Zeitpunkt welche Vorbereitungsmaßnahmen getroffen werden müssen. Das heißt im Klartext, ob ausreichend Zeit bleibt, um Gesetze zum Schließen der Lücken, die durch einen harten Brexit entstünden, durch die normale parlamentarische Prozedur zu bringen, während der Berufskammern und Staatsrat Gutachten abgeben. Da aber ohnehin nur noch vier Monate bis zum Stichtag bleiben, ist dies bereits jetzt eher unwahrscheinlich. Daher erwog Asselborn vergangene Woche schon die Nutzung von Artikel 32.4 der Verfassung, die es erlaubt, ohne Parlamentszustimmung drei Monate gültige Notstandsgesetze zu erlassen.
Stimmen die Briten der Austrittsvereinbarung zu, erklärte der Außenminister, bleibt während der Übergangsperiode einstweilen alles beim Alten, weil die Briten weiterhin dem Binnenmarkt und der Zollunion angehören. Sie müssen in dieser Zeit alle geltenden und neuen Bestimmungen anwenden, obwohl sie über deren Gestaltung nicht mehr mitentscheiden. Allen Briten, die nun hier sind und die während der Übergangsphase kommen, werden ihre heute geltenden Rechte garantiert. Der Flugverkehr würde nicht unterbrochen und die Finanzbranche würde weiter funktionieren wie bisher. Für danach müssten für den Personenverkehr Visabestimmungen, für den Flugverkehr neue Flugrechte und Zertifizierungsabkommen ausgehandelt und für die Finanzbranche ein sogenanntes Äquivalenzsystem aufgebaut werden, das den Austausch von Dienstleistungen ermöglicht, die gegenseitig als gleichwertig reguliert anerkannt werden. Letzteres ist in der politischen Erklärung explizit erwähnt. Das ist ein Erfolg für Großbritannien und Luxemburg, denen beiden ein Äquivalenzsystem, wie es mit anderen Drittstaaten wie der Schweiz besteht, nicht ausreicht, weil es jederzeit kündbar ist und damit eine Unterbrechung, also ein harter Brexit, in den Finanzdienstleistungen immer wieder ohne viel Vorwarnung vorkommen könnte.
Da es keinen Plan B gibt, beschäftigt sich derzeit eine interministerielle Gruppe unter Leitung des Außenministeriums mit der Frage, was im Falle des Falles kurzfristig über Notstandsgesetze geregelt werden muss. Sie tagte vergangenen Freitag. Viele Informationen förderte die Sitzung nicht zu Tage. Das liegt daran, dass für die kritischen Themenfelder – Schicksal und Verbleib der Briten in Luxemburg und der Luxemburger in Großbritannien, Flugverkehr und der Austausch von Finanzdienstleistungen – unterschiedliche Situationen vorliegen. Je nachdem könnte die EU-Kommission versuchen, en bloc Lösungen zu finden oder zumindest die Vorlage für bilaterale Lösungen auszuarbeiten, die dann auf Ebene der Nationalstaaten umgesetzt werden müssten. Das gilt beispielsweise für den Personenverkehr und den Flugbetrieb. Weil die Aussicht auf totales Chaos am größten europäischen Flughafen Heathrow Ende März aber ein gutes Druckmittel auf das britische Parlament ist, will sich die EU dabei nicht allzu sehr in die Karten schauen lassen. Daher bleibt Gesellschaften wie der Luxair, die je nach Jahreszeit sieben bis acht Mal täglich zwischen Luxemburg und London-City hin- und herfliegt, nichts anderes übrig als abzuwarten und auf das Beste zu hoffen – eine Lösung zu finden, liegt nicht in ihrer Hand.
In der für Luxemburg so wichtigen Finanzbranche sieht es ein bisschen anders aus. Im Falle eines harten Brexits wird Großbritannien – mangels verbessertem Äquivalenz-System – zum beliebigen Drittstaat; für diese gibt es Regeln, so dass konkrete Notstandsgesetze derzeit nicht notwendig erscheinen, heißt es aus dem Finanzministerium. Vor ungefähr zehn Tagen hat die EU-Kommission außerdem die Kuh des in London angesiedelten Derivatehandels vom Eis gebracht, indem sie auch für den Fall eines harten Brexits eine „technische“ Übergangsphase ermöglicht. In dieser Zeit, so Serge de Cilia, ABBL-CEO, gelten bereits abgeschlossene Verträge weiter, auch wenn keine neuen mehr abgeschlossen werden. Was die Business-Continuity betrifft, also die Weiterführung von Dienstleistungsverträgen zwischen Luxemburger und britischen Gesellschaften, erhielten die Luxemburger Bankfilialen ihre Instruktionen von ihren ausländischen Mütterhäusern. Die werden ihrerseits seit Monaten von den europäischen Aufsichtsbehörden angehalten, ihre Verträge zu überprüfen und gegebenenfalls anzupassen. Ein anderes Problem, das sich ohne Übergangsphase für die Luxemburger Banken stellt, müssten sie kurzfristig selbst lösen. Die ABBL hat in der Kapitalstruktur der hier angesiedelten Banken einen dreistelligen Millionenbetrag an in London gehandelten Anleihen ermittelt. Besagte Anleihen gehören zum Notfallpuffer liquider Mittel, die in Kapital umgewandelt werden müssen, wenn die Banken in Schieflage geraten. Laut EU-Richtlinien müssen diese innerhalb des Binnenmarktes emittiert sein, damit sie, falls ein Bail-in notwendig wird, tatsächlich umgewandelt werden können. Gehört London nicht mehr zum Binnenmarkt, müssen die Banken prüfen, ob sie diese Anleihen auflösen können, um sie durch neue, auf dem Festland emittierte zu ersetzen. Sollte dies nicht möglich sein, bliebe ihnen nicht anderes übrig, als unter zusätzlichen Kosten noch einmal Anleihen im gleichen Volumen innerhalb der EU aufzunehmen, um ihre regulatorischen Kapitalauflagen zu erfüllen.
Zeitschiene
11.12.2018 Meaningful vote (bei positivem Ausgang)
vor dem 29.3.2019 Abstimmung über Gesetzentwurf zur Umsetzung des Austrittsabkommens
29.3.2019 Austritt
30.3.2019 Beginn der Übergangsphase, Beginn der Verhandlungen über Freihandelsabkommen
31.7.2020 Übergangsphase kann um zwei Jahre verlängert werden
31.12.2020 Ende der unverlängerten Übergangsphase
11.12.2018 Meaningful vote (negativer Ausgang)
Regierungsumbildung?
Neuer Premierminister?
Neuwahlen?
bis 29.3. Abstimmung über Gesetzentwurf zur Umsetzung des Austrittsabkommens möglich
Ansonsten am 29.3.2019 harter Brexit
Danach keine Übergangsphase