Im Schatten des müden Kulturhauptstadtprojekts hat die Stadt Esch ein ambitioniertes Kulturprogramm vorgestellt. Ein Plan, der auf Zustimmung in der Kulturszene trifft

Alternative zu Esch 2022

d'Lëtzebuerger Land vom 26.06.2020

Alles außer Kunst Seit vergangener Woche geht ein Link in Kulturkreisen um: es22.lola.lu. Er führt zu einer scheinbar neuen Internetseite des Projekts der europäischen Kulturhauptstadt Esch 2022. Die Homepage ist in der visuellen Identität der Kulturhauptstadt gestaltet, beinhaltet Fotos und Aussagen von Projektleiterin Nancy Braun sowie ihres Teams und zeigt ein Interview, in dem der Escher Bürgermeister Georges Mischo (CSV) sich im Kulturjahr Bruce Springsteen vor den Hochöfen wünscht. Das Highlight der Seite ist jedoch ein Video, in dem vier Schauspieler/innen den Jahresbericht 2019 von Esch 2022 performen. Spätestens jetzt könnte man meinen – es handele sich um eine Parodie. Mitnichten.

Das Projekt der Europäischen Kulturhauptstadt will immer noch nicht so recht zünden. Und wahrscheinlich ist diese Formulierung noch untertrieben: Das 60 Millionen schwere Projekt hat bis jetzt etliche Schlagzeilen produziert, haufenweise Berichte und Konzepte wurden verfasst, mehr als 600 Künstler haben Projekte eingereicht, um sich mehrheitlich eine Absage einzuholen oder weiter auf eine Antwort zu warten. Es wurden Zeit, Energie und Ressourcen verschwendet, die für hohe Beratergagen (u. a. Binsfeld und Oxygen) und für ein außerordentlich hohes Maß an Frustration bei Künstler/innen sorgten. Eins hat Esch 2022 allerdings bis jetzt noch fast nicht hervorgebracht: Kunst. Vielleicht will die scheinbar satirische Interpretation der Agentur Lola von Laurent Graas darauf hinaus: Esch 2022 soll als Gesamtkunstwerk betrachtet werden, in dem selbst Jahresberichte als kultureller Output gelten.

Die politischen Verantwortlichen wissen insgeheim um das PR-Debakel, auch wenn sie es natürlich nicht offen gestehen können. Georges Mischo versucht es mit einer humorvollen Note und übt sich in
Understatement: „Also langweilig wird mir mit Esch 2022 nicht.“ Kulturschöffe Pim Knaff (DP) will nicht mehr über die Vergangenheit reden und richtet den Blick nach vorne. Und der Kulturbeauftragte der Stadt Esch, Ralph Waltmans, sieht vor allem böse Absichten bei der Luxemburger Presse: „Ich habe das Tageblatt abbestellt.“

Hohe Investitionen Dabei hat die Stadt Esch vor kurzem ein Kulturprogramm vorgestellt, das eigentlich die Frustrationen und negativen Schlagzeilen hinter sich lassen sollte. Die Stadt wird im Rahmen ihres Kulturplans „Connexions“ beeindruckende Anstrengungen zum Infrastrukturausbau unternehmen: Das frühere Direktionsgebäude Bâtiment IV von ArcelorMittal in Esch-Schifflingen soll als sogenannter Tiers-lieu den Künstler/innen zur Verfügung gestellt werden; das Bridderhaus soll zu einer permanenten Residenz für über 20 Künstler, das frühere Möbelhaus Espace Lavandier zu einer Kunsthalle mit über 3 000 Quadratmetern Ausstellungsfläche werden. Das Kino Ariston fungiert in naher Zukunft als pädagogische Theaterstätte. Das Resistenzmuseum wird renoviert. Das Gebäude der Luxcontrol geht in den Besitz der Stadt über und wird zu einer Erweiterung des Escher Konservatoriums umgebaut und soll gleichzeitig ein neues Museum für Industriekultur beherbergen. Und selbst das Prestigeprojekt von Bürgermeister Mischo – ein nationales Sportmuseum in Esch – soll laut Land-Informationen in den Startlöchern stehen. Kurz: Die Stadt Esch geht kulturell voran und drückt die Kulturausgaben auf rekordverdächtige 16 Prozent des Stadthaushaltes.

Vor kurzem hat Kulturschöffe Pim Knaff den Großteil dieses kulturellen Pakets bei einer Pressekonferenz vorgestellt. Allerdings etwas überraschend nicht gemeinsam mit Esch-2022-Leiterin Nancy Braun, sondern im Rahmen des Kulturplans „Connex-ions“, der noch auf die frühere Bürgermeisterin Vera Spautz (LSAP) zurückgeht. Ein Alleingang der Stadt, bei dem zudem die neue Organisation frEsch Asbl vorgestellt wurde, um den Esch-2022-Abtrünnigen Christian Mosar. Dieser Umstand führte dazu, dass in Kulturkreisen und in Teilen der Presse manche die Pressekonferenz als Versuch der Stadt deuteten, sich von der Stater Clique von Esch 2022 ein Stück weit zu lösen und ein Alternativprogramm zu gestalten. Quasi ein Esch-2022-bis. Sowohl Waltmans als auch Knaff widersprechen dieser Auslegung vehement. „Von einem Esch-2022-bis kann keine Rede sein“, so Waltmans. Allerdings sagt Knaff, dass es sich dennoch um eine „Alternative“ zu den bisherigen Vorstellungen des Kulturprojekts handelt – weniger glamourös, weniger Belval, mehr künstlerorientiert.

Tiers-lieu Das Herzstück des Infrastrukturprogramm bildet dabei das Bâtiment IV. Das ehemalige Arbed-Direktionsgebäude gleich neben den Eisenbahngleisen und der ArcelorMittal University verfügt über drei Stockwerke mit dutzenden Räumen verteilt auf über 3 000 Quadratmeter. In der Vergangenheit diente es einige Zeit als Krankenpflegeschule und steht seit fünf Jahren leer. Kupferdiebe haben sich seither am Gebäude zu schaffen gemacht und Kabel aus den Wänden gerissen, Jugendliche haben zudem die Mauern mit Edding-Stiften bemalt – davon abgesehen ist das Gebäude noch vollkommen intakt.

Die Idee, daraus einen kulturellen Ort zu gestalten, geht noch auf Véra Spautz zurück sowie auf das erste Esch-2022-Bid-Book Amour von Kulturchef Waltmans, das von der Europäischen Kommission abgelehnt wurde. „Wir haben uns damals mit Herrn Wurth getroffen“, so Spautz. Die ersten Gespräche im Jahr 2016 verliefen gut, ein Accord de principe zwischen Stadt Esch und ArcelorMittal wurde festgehalten. Im Mai 2018 nutzte die Stadt Esch das Bâtiment IV erstmals für den Abschluss der Nuit de la culture.

Nun soll das Gebäude als sogenannter Tiers-lieu culturel dienen. Ein Freiraum ohne festes Programm, ohne klar definierte Struktur und ohne Hierarchie. Im Bâtiment IV sollen sich Personen eher zufällig treffen und den kulturellen Austausch suchen. Die Dinge sollen sich von unten entwickeln, wie Kultschöffe Knaff sagt, ohne klare Vorgabe und Zielsetzung. Es ist demnach ein klarer Kontrapunkt zum bisherigen Projekt von Esch 2022, bei dem Künstler/innen ihre Ideen nach den Remix-Vorstellungen von Braun und Co. framen und anschließend das Roga’sche Vierstufensystem bestehen müssen, benannt nach seinem Erfinder Robert Garcia. Alle Projekte werden nach vier unterschiedlichen Kategorien bewertet: 1 (Zusage), 2 (prinzipielle Zusage nach Überarbeitung), 3 (Absage) und 4 (im Wartezustand). Von 606 Vorschlägen haben lediglich 31 grünes Licht erhalten, 342 wurden abgelehnt, der Rest befindet sich im Limbo zwischen Überarbeitung und Prüfung. Auf Nachfrage teilt Esch 2022 mit, dass die definitiven Zahlen erst „im Herbst“ kommuniziert werden. Das will nach gut unterrichteten Quellen heißen: Die Zahl von 31 Zusagen wird wohl kaum steigen.

Sheriff Die Stadt Esch hat das Bâtiment IV für drei Jahre von ArcelorMittal (die dafür keine Verwendung mehr haben) gemietet mit Option auf Verlängerung. Sie erhielt eine finanzielle Unterstützung von der Oeuvre grand-duchesse Charlotte, aber auch von Esch 2022 in Höhe von jeweils 200 000 Euro. Laut Waltmans sollen in Zukunft sowohl lokale Töpfervereine sich dort wohlfühlen als auch Kulturgrößen wie das Theaterkollektiv ILL oder die Jugendkulturinitiative Hariko. Platz dazu gibt es im Gebäude genug. Doch Waltmans setzt dem Laissez-faire-Gedanken des Tiers-lieu gleich Grenzen: Er spricht von einem „Sheriff“, den er für das Gebäude einstellen will – „sonst herrscht hier Anarchie!“

Als erste prominente Gäste werden das Kollektiv Cueva um das Escher Original Théid Johanns das Bâtiment IV beziehen. Johanns hat bereits einen Schlüssel erhalten und wird wohl Künstler, Portier und Teilzeitscheriff in Personalunion sein. Er sieht das Bâtiment IV als willkommene Alternative zu Esch 2022. Das Projekt habe bisher nur Geld verbrannt und für „Gestreits“ gesorgt. Das liege daran, dass es den meisten im Organisationsteam weniger um Kultur als vielmehr um ihre eigene Karriere gehen würde. „Mee dat ass normal, dat leeft dach ëmmer esou hei“, so Johanns.

Cueva wird das Bâtiment IV mit 70 Künstler/innen beziehen und eine Schau für die Monate November und Dezember organisieren. Jeder Künstler erhält einen eigenen Raum und kann laut Johanns machen, was er wolle. Eine schriftliche Kandidatur muss niemand stellen und schon gar kein Dossier einreichen: „Mat esou engem intellektuelle Gewichs brauch iwwerhapt keen ze kommen“, so Johanns. Er zieht an seiner Zigarette, blickt zu seiner Skulptur und lacht.

Pol Schock
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