Autokino

Béla, vergiss dein Auto nicht!

d'Lëtzebuerger Land vom 05.06.2020

War es in den Sechzigerjahren noch der Ausdruck des Freiheitsgedankens junger Generationen, so erfuhr das Autokino einen sukzessiver Niedergang. Nun aber erleben wir im Verlaufe der gegenwärtigen Covid-19-Krise ein Revival. Die Gemeinde Mamer in Zusammenarbeit mit Caramba und das Echternacher CinéSura, Mitglied des CDAC, bieten seit vergangener Woche Autokino an. Kinoerlebnis und Film sind seitjeher auf ganz paradoxe Weise unabhängig voneinander und doch ganz eng miteinander verwoben.

Beginnen wir am Anfang. Und am Anfang war das Bild: Der Film war und ist in erster Linie ein visuelles Medium, das erst mit The Jazz Singer (1933) audiovisuell wurde. Die Frage des filmischen Bildes und seines Dispositivs ist im Zuge der Filmgeschichte aber längst nicht mehr so eindeutig zu bestimmen und einzig auf die Kinoleinwand reduziert – neben der klassischen Kinoleinwand hat das Filmbild viele weitere Vorführungsmöglichkeiten erlebt und mitunter dauerhaft gefunden, ja, es ist mit dem Smartphone sogar in unseren Taschen angelangt. Wir können Filme heute auf vielfältige Weise erleben, auch im Autokino, denn das Kino ist nicht mehr das was es mal war: Unlängst hat man sich im Saal nolens volens an die Geräuschkulisse des Publikums gewöhnt und an dieser Stelle nun die Debatte über ein Popcorn-Ge- oder Verbot ins Feld zu führen, würde den Rahmen sprengen. Fest steht: Wer im Auto sein Popcorn isst, stört den Nachbarn nicht.

In allen Fällen ist der Film auf der Leinwand eine Auseinandersetzung, das erfordert Konzentration, im Kino wie im Autokino, unter keinen Umständen aber Ablenkung von der Sache. (Distraktion meint im etymologischen Wortsinne etwa hin- und hergerissen sein!) Wir wollen ja nicht vergessen, dass wir beim Autofahren auch nicht unsere „interaktive Leinwand“ aus den Augen verlieren wollen – Achtsamkeit ist geboten, es darf uns nichts entgehen. Und damit sind wir beim nächsten Punkt: In der Situation des Autokinos ist die Leinwand gleich gedoppelt: Zuerst blicken wir durch die Windschutzscheibe, dann erst auf die Leinwand. Die Leinwand im Kino aber ist das ungebrochene Blickfeld – Denis Villeneuves Arrival von 2017 hat diesen Umstand klug in seiner Handlung mitgeführt, dieser Film könnte unter den Bedingungen eines Autokinos nicht funktionieren.

Die Linie Sichtfeld-Windschutzscheibe-Leinwand können nie optimal synchronisiert werden. Im Kinosaal ist es ja auch dunkel, im Autokino sind die Lichtverhältnisse aber von den Naturgesetzmäßigkeiten abhängig – früher nannte man das Kino ein Lichtspielhaus, das Autokino ist ein Lichtspielparkplatz. Wer Michael Manns Nachtaufnahmen in Hochauflösung in Collateral oder in Miami Vice nicht im völligen Dunkel erlebt, kann die Themenwelten dieses großen, letzten und vor allem wahren Autors des zeitgenössischen amerikanischen Kinos nicht verstehen. Wer sich Ingmar Bergmans virtuose Großaufnahme von Ingrid Thulins Monolog aus Licht im Winter annehmen will, muss ihr in die Augen sehen können. Wer diese Szene nicht so erfahren kann, der kann Ingmar Bergmans Kino nicht erleben und mithin nicht verstehen. Im Autokino ist ein Blickkontakt mit den Schauspielern bei ungünstiger Parkposition und limitierten Sitzeinstellungsmöglichkeiten nur bedingt möglich. Der ungarische Filmkritiker und bedeutender Denker der Großaufnahme für die Filmwissenschaft Béla Balázs hat einmal gemeint, dass im Minenspiel eines Filmschauspielers die ganze Kunst liegt. Hätte es um 1920 Autokinos gegeben und der vor ihm geparkte Wagen wäre ein Ford Modell A, der arme Béla würde nie wieder ein Autokino besuchen, er würde noch während der Filmvorführung aussteigen und glatt seinen Wagen vergessen. Im Kino sind Leinwand und Ton beinahe verschmolzen, der Ton kommt direkt aus dem Bild. Im Autokino kommt der Ton aus der Radioanlage, das Bild liegt aber weiter entfernt, der Ton ist schon da, das Bild „noch nicht“, kurz: Ton und Bild fallen auseinander.

Das Kino ist eine Zeitkapsel: Wenn wir nicht gerade in einem Film von Andrei Tarkowski sind, dessen gesamtes Werk ja programmatisch auf die Erfahrung der Zeit ausgerichtet ist, dann vergisst man bei einem Film gerne einmal den real sich abspielenden Fluss der Zeit. Will man im Autokino die Ladekapazität seiner Batterie kontrollieren, man ist ja unter Umständen auf die im Idealfalle klare und rauschfreie Funkfrequenz seines Radios angewiesen, schweift der Blick gern über das Armaturenbrett auf die Uhranzeige – und plötzlich ist der eigene Alltag zumindest in absentia wieder präsent.

Im Kinosaal kommen die individuellen und kollektiven Erfahrung zusammen, im Autokino sind auch diese immer noch beieinander, wenngleich unter anderen Umständen. Da kann gerne mal bei einem Horrorfilm der ganze Parkplatz erschrecken, ohne aber, dass man sich dessen untereinander bewusst ist. Man erlebt gemeinsam und doch wieder nicht.

Zugegeben: All dies in Rechnung gestellt, werden weder aus Bad Boys 3, den man aus Ermangelung eines in irgendeiner Form aussagekräftigen Begriffs nur mit dem Neologismus „Bayhem“ bezeichnen kann (in Anlehnung an den überdrehten Stil von Michael Bay), oder aus den Känguru-Chroniken, der dem deutschen Mainstream-Film keine Ehre erweist, bessere Filme. Allenfalls ist das Ablenkung und Zeitvertreib von mehr als schwacher Qualität. Nicht umsonst meinte Martin Scorsese, dass die Marvel-(Nicht-)Filme in einen Freizeitpark gehörten.

Im Kinosaal sind nun mal alle technischen Aspekte auf dieses einzige Ziel der Immersion ausgerichtet. Je höher der Grad an Immersion desto intensiver das Filmerlebnis. Um es mit Marshall McLuhan zu sagen: „The medium is the message“. Das Kino bleibt das Kino, das hat die Filmgeschichte immer wieder bestätigt.

Wer dem Autor dieser Zeilen nun Nörgelei unterstellen will, der hat es schlecht gewusst: Es dürfte dem beflissenen Filmliebhaber bei der Aufzählung der Filme nicht entgangen sein, dass dieser kleine Streifzug durch die Filmgeschichte hinreichend erklärt, warum das „Phänomen Autokino“ nie auf Dauer neben dem Kinosaal hätte bestehen können. Autokino war und ist immer Ausdruck einer ganz bestimmten Zeit und momentan erweist sich 2020 als ein ganz sonderbares Jahr. Oder ist ausblickend nicht etwa zu fragen, ob das Autokino als Basis dienen kann, eine Anregung zu schaffen für das Nachdenken über Film, um so zu möglichen Neudefinierungen oder (Re-)Evaluierung der Idee von Film als Kunst zu gelangen?

Jedenfalls: Die Initiative eines Autokinos in Zeiten der Pandemie zu organisieren, ist mehr als nur lobenswert, ja: Die eigene Gesundheit zurückzustellen, um die Menschen über den Film zusammenkommen zu lassen, eine Erfahrung teilen zu lassen, ist ein Verdienst, für das man applaudieren bzw. hupen soll, das ist Herzenssache. Kurz: Es ist eine Form der
Cinéphilie – und nur das zählt.

Marc Trappendreher
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