Es brauchte die Affäre um die Absetzung des Begründers und Direktors der Cinémathèque française Henri Langlois, die Studentenrevolten im Mai und sehr viel Theater an der Croisette – Carlos Saura und Geraldine Chaplin, Regisseur und Star des Films Peppermint Frappé hangelten zu Vorstellungsbeginn des Wettbewerbsfilms mitsamt Truffaut, Godard und Co. am Vorhang –, um den Filmfestspielen von Cannes 1968 kurzfristig den Garaus zu machen.
Dergleichen Turnübungen brauchte es dieses Jahr nicht. Mensch freute sich schon auf die neuen Filme von Leos Carax – ein Musical aus der Feder der Sparks und mit Adam Driver in der Hauptrolle – oder Mia Hansen-Løve, die Tim Roth mit Vicky Krieps auf Fårö zusammenbrachte für Bergman Island. Dem soll nicht so sein: Die Festivals im tschechischen Karlsbad, Locarno und viele andere haben das Tuch für die diesjährigen Ausgaben geworfen. Die komplette Festivalsaison ist abgesagt.
Komplett? Thierry Frémaux, künstlerischer Leiter des Festival de Cannes, hat seine diesjährige Ausgabe auf ein unbestimmtes Datum verlegt, und die Mostra in Venedig soll weiterhin Anfang September stattfinden. Immerhin. Andere jahrzehntelang gepflegte Termine im Kalender der Filmbegeisterten werden als digitale Version stattfinden. Die Kurzfilmtage Oberhausen (Mitte Mai) sowie das Festival des Animationsfilms in Annecy (Mitte Juni) haben ihre Wettbewerbe ins Netz verlegt.
Oberhausen und Annecy bedienen ein spezifischeres Publikum mit ihrem jeweiligen Programm. Die Verantwortlichen des New Yorker Tribeca Film Festival haben den Schritt der Digitalisierung noch weiter gedacht und laden seit einer Woche und noch bis Sonntag (respektive bis dass sich die letzten Filme am 14. Juni in Luft auflösen) zum We Are One: A Global Film Festival ein. Hinter dem kitschigen Namen verbirgt sich ein Unterfangen, das es in dieser Form in der Geschichte des Filmfestivalbetriebes noch nicht gegeben hat: Zusammen mit der Videoplattform YouTube und insgesamt 21 Filmfestivals – von Guadalajara, New York über Rotterdam, San Sebastian, Berlin und bis nach Macau, Tokyo und Sidney –, kuratiert We Are One Spiel- und Kurzfilme, Animations- sowie Dokumentarfilme sowie Podiumsgespräche. Auf YouTube. Kostenlos.
Somit scheint inmitten der Corona-Kulturflaute der wohl konsequenteste Versuch gelungen zu sein, alternative Filmkunst den Massen nahezubringen. Jedes Festival hat aus früheren Ausgaben eine kleine Auswahl kuratiert, die dann zu über 90 Prozent nicht geoblockiert im Netz eine Woche lang aufrufbar ist. Das Programm reicht von Filmpremieren, eine davon wurde im Rahmen des Festivals speziell produziert, bis zu alten (restaurierten) Schinken.
Ein Klassiker von Ulrike Öttinger steht auf dem Programm – ihr wurde vor einigen Wochen die Berlinale Kamera am Potsdamer Platz verleiht –, sowie ein Besuch in einem Kunst-Workshop in einem mexikanischen Hochsicherheitstrakt. Es geht um den Fotografen der Beastie Boys und Menschen fallen vom Himmel. Vicky Krieps ist weder in Cannes noch auf YouTube mit von der Partie, dafür kann man die luxemburgische Schauspielerin Jeanne Werner in der Rolle einer Köchin am Rande des Nervenzusammenbruchs im Kurzfilm Cru von David Oesch sehen. Eine Auswahl aus insgesamt über hundert (Kurz-)Filmen, VR-Experiences und Diskussionen machen der Cinephilie das Leben schwer.
Solange jedoch die hiesigen Kinos ihre Türen geschlossen halten (der 17. Juni ist Stichtag für die Wiedereröffnungen) und sogar der öffentliche Rundfunk keine Streaming-Alternativen nebst Netflix im Visier hat, lässt sich mit We Are One: A Global Film Festival das Kinoloch auf zum Teil spannende Art und Weise füllen. Ein richtiger Gegenentwurf zu den analogen Filmfestivals ist eine solche Initiative aber noch lange nicht. Lockdown und dieses Online-Festival sollen (laut Veranstalter) auch in Zukunft die absolute Ausnahme bleiben.
Here Are Five (eine Auswahl)
1. Crazy World von Nabwana I.G.G. Das Festival von Toronto ist für diesen Beitrag verantwortlich. Der Film, der sich anfangs als Amateurfilmprojekt eines Jugendhauses in Uganda gibt, entfacht nach nur wenigen Sekunden eine komplett verrückte Energie und Konsequenz in Spiel und Regie, wie Mensch sie seit Mad Max: Fury Road nicht mehr erlebt hat. Es geht um Kindesentführungen, aber eigentlich geht es um Geballer, (Meta-)Spaß und die unerklärliche Liebe am Filmemachen. Und das alles In da new movie from Uganda’s most action packed ghetto.
2. Nasir von Arun Karthik. Der zweite Film des jungen tamilischen Regisseurs erzählt anhand eines Tages aus dem Leben eines einfachen Mannes, der der muslimischen Minderheit im indischen Ghetto angehört. Zusammen mit Frau, Mutter und Cousin bestreitet die Hauptfigur ihren Alltag und zwar inmitten unterschwellig sich aufbauendem Hass in der Gesellschaft.
3. Inabe von Kōji Fukada. Der japanische Regisseur Fukada, der mit seinen Spielfilmen schon in Cannes und Locarno vertreten war, wird von den heimischen KollegInnen des Festivals in Tokio mit drei Kurzfilmen präsentiert. Seine Reimagination der Yalta Konferenz zwischen Stalin, Churchill und Roosevelt als Zoom-Call ist mehr Miss als Hit aber, aber sein Film Inabe ist ein ungeschliffenes Juwel. „The conciousness of someone close to death is like that. They approach zero without ever fully disappearing. Even at the point of 0.0000001.“ So leicht und melancholisch schön war die Auseinandersetzung mit dem Tod schon lange nicht mehr.
4. L’heure de l’ours von Agnès Patron. Die naturgegebene Zweisamkeit von Mutter und Sohn wird mit der Ankunft eines Mannes seismisch aufgerüttelt, eine Begegnung, die den inneren (?) Bären im Kinde erweckt. Metaphorisch und symbolisch aufgeladen, erschüttert Patrons Aquarell-Animation bis auf die Knochen. Pierre Oberkampfs perkussive Filmmusik, Tuba inklusive, verstärkt auf berauschende Art und Weise den Affirmationsgestus des Kindes. Beitrag aus Cannes.
5. Blood Rider von Jon Kasbe. Blutspenden sind in Nigeria ein lieferbeschränkter Artikel. Dieser Artikel entscheiden in Krankenhäusern jedoch über Leben und Tod. Vor allem, wie schnell dieses Blut am gewünschten Ort ist. Dieser kurze Dokumentarfilm stellt eine hochschwangere Frau einem motorisierten Eilboten gegenüber. Sie benötigt während der Geburt eine lebensrettende Blutspende; er muss mit dem Motorrad schnell durch den dichten Verkehr der Hauptstadt Lagos. Begleitfilm zu Midnight Family, der beim diesjährigen LuxFilmFest zu sehen war, der formähnlich das ineffiziente öffentliche Gesundheitssystem als Thriller thematisiert. td