Es erweckt den Eindruck, als habe sie Gefallen daran, an den endlosen Nächten von Brüssel, in denen in stundenlangen Verhandlungen und Gesprächen einmal mehr über die Zukunft der Europäischen Union entschieden wird. Es sind diese Bilder von nachtgrauen Hochhaus-Silhouetten, fensterlosen Büros, müder Betriebsamkeit, erschöpfter Politiker, die eine Frau umgeben, die unerschütterlich in ihren Vorhaben und ihrer Kondition zu sein scheint: Angela Merkel.
Angela Merkel ist keine Innenpolitikerin, die über Marktplätze und durch Turnhallen tingelt, die sich durch Talkshows und Politmagazine treiben lässt, und sie ist auch keine Politikerin, die im Bundestag ihr Profil gewonnen hat. Merkel hat ihre Agenda auf der Meta-Ebene gefunden, auf der internationalen Bühne, vor allem bei Treffen unter Regierungschefs, in persönlichen Begegnungen. Hier fand die Bundeskanzlerin, die lange mit der EU fremdelte und es eigentlich immer noch tut, ihre Berufung, aber auch ihre Themen, sei es der Klimaschutz, der Euro oder nun die Flüchtlingskrise. Angela Merkel denkt dabei in anderen Dimensionen, mit einem Bild vom großen Ganzen, das sicherlich durch ihre persönliche Erfahrungen, ihre Biografie und ihren Werdegang von „Kohls Mädchen“ zur „Mächtigsten Frau der Welt“ bestimmt und geprägt ist. Eine bundes-, europa- und geopolitische Karriere, die im vergangenen Sommer in einem einzigen Foto ihre Ikone fand: Beim G-7-Gipfel im bayerischen Elmau breitete sie vor US-Präsident Barack Obama die Arme aus, ein mächtiges Alpenpanorama als Kulisse. Es geht ihr um das Große, um das Ganze. Das innenpolitische Kleinklein, Streit um Pöstchen und Positionen überlässt sie ihren Kabinettskollegen, die sich im alltäglichen Zwist gerne verheddern.
Über den Blickwinkel der Kanzlerin lässt sich trefflich streiten. Diese alles überblickende Perspektive, das Agieren auf der Meta-Ebene, das Denken in Dimensionen und Visionen hat man Angela Merkel oft nicht zugetraut. Vor allen Dingen nicht auf den Fluren und Korridoren der Brüsseler EU-Administration. Eine Bundeskanzlerin müsse deutsch denken und könne nur zum Vorteile Deutschlands agieren. Das mag oft, sehr oft ihr Motiv gewesen sein und Begründung für ihre Entscheidung. So ist es zurzeit nur sehr schwer vorstellbar, wie sie ihre 27 Kollegen in der EU mit Argumenten davon überzeugen will, dass der im Alleingang beschlossenen deutschen Flüchtlingspolitik nun eine europäische Lösung folgen muss.
Merkel ist nicht unschuldig daran, dass die Flüchtlingskrise nicht als unionsweites, als kontinentales Problem dort verhandelt wird, wo es eigentlich hingehört: in den europäischen Institutionen – von der EU-Kommission über das Parlament hinein in die europäische Öffentlichkeit. So es denn überhaupt eine gibt. Die Flüchtlingskrise kann nur im europäischen Kontext gelöst werden. Es ist kein deutsches Problem, sondern eine europäische Krise. Denn auch wenn sich Deutschland im Sommer abgeschottet und hinter Drittstaat-Dublin-Abkommen verbarrikadiert hätte oder nun Kontingente und Obergrenzen einführt, hätte dies Flüchtende nicht davon abgehalten, sich auf den Weg nach Mitteleuropa zu machen. Es wird auch heute keinen Flüchtling davon abhalten. Die Union kann als Ganzes durchaus einige Millionen Flüchtlinge aufnehmen. Ein einzelnes Land hingegen wird dies nicht schaffen, und sei es das größte und stärkste in der Europäischen Union.
Die Meta-Ebene braucht immer eine solide Basis. Quasi eine Meta-Basis, ein Fundament, auf dem in politischer Hinsicht Entscheidungen getroffen werden – eben jene politische Institutionen und vor allen Dingen eben jene Öffentlichkeit, die nach immer mehr Transparenz verlangt, nach Nachvollziehbarkeit der Entscheidungswege. Genau das ist nicht das Ding von Angela Merkel. Sie mag es in persönlichen Gesprächen – oft hinter verschlossenen Türen – zum Ziel zu gelangen, zu überzeugen, zu verhandeln. Die große Bühne ist nicht ihr Ding, das Hinterzimmer schon. Das hat sie in der Finanz- und Bankenkrise so getan. Und kam zum Ziel.
Nun braucht sie starke europäische Institutionen. Doch die Folgen der Euro-Krise rächen sich: Um die gemeinsame Währung fürs Erste zu bewahren, wurden die Rollen der nationalen Regierungen im Gefüge der 28 EU-Staaten gestärkt. Nationale Egoismen bekamen Aufwind, die sich nun Europa verweigern. Das war nicht immer so. Im Geist von Maastricht zu Beginn der Neunzigerjahre standen die Zeichen auf mehr Union. Damals wurde das Parlament aufgewertet und die Kommission bekam mehr Einfluss. Doch genau dieser Paradigmenwechsel findet zurzeit im politischen Denken von Merkel statt: mehr Europa wagen! Als am vergangenen Wochenende die Kanzlerin ihre Flüchtlingspolitik einmal mehr vor CSU-Granden rechtfertigen musste, diese sie mit überfüllten Turnhallen, überforderten Verwaltungen und verunsicherten Bürgern konfrontierten, antwortete Merkel mit einem Appell für ein stärkeres Europa, das auch mehr Souveränität von Deutschland einfordern wird und muss. Sie weiß, dass sie nun auf Europa bauen muss und findet in Jean-Claude Juncker einen Verbündeten. Ausgerechnet Juncker, den sie vor knapp zwei Jahren noch als Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei verhindern, um eben eine Politisierung des Europawahlkampfs zu vermeiden, und später nicht als Kommissionspräsident haben wollte.
Angela Merkel hat sehr lange davon profitiert, dass das Schicksal der EU an ihr persönlich zu hängen schien. Für die weitere politische Karriere von Angela Merkel mag dieser Paradigmenwechsel in Sachen Europa zu spät kommen. Mit den Landtagswahlen Anfang März in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt scheint das Schicksal von Merkel verknüpft zu sein, als ob sich die Flüchtlingskrise abwählen ließe. Doch gerade nun scheint auch Europa Angela Merkel zu brauchen. Weil ihr als einziger Politikerin derzeit an Europa gelegen ist – aus vermeintlich egoistisch-nationalen Gründen. Weil sie auch die einzige ist, die das Erodieren der Union aufhalten kann, die verhindern kann, dass die EU zu einem losen Staatenbund ohne gemeinsame Werte, Visionen und Ziele, zu einem Vertragswerk ohne Geist und Inhalt werden wird. Vielleicht ist sie zurzeit auch die einzige Politikerin in Europa, die versteht, dass die Euro-Krise nicht genutzt wurde, um die Rolle und demokratische Legitimation der gemeinsamen Institutionen zu stärken. Genau deshalb mag Angela Merkel zurzeit für die EU „alternativlos“ sein.