Molenbeek, heute eine von 19 Gemeinden der Re-gion Brüssel, ist seit prähistorischen Zeiten besiedelt. 1835 fuhr vom Molenbeeker Bahnhof der erste Personenzug des Kontinents ab, damals ein nationales Ereignis. Weltweit bekannt wurde es am vergangenen Wochenende nach den Anschlägen von Paris, die offensichtlich in Molenbeek geplant wurden. Mehrere der wahrscheinlich neun Terroristen kamen aus Molenbeek oder wohnten hier. Abdelhamid Abaaoud, der Kopf der Pariser Angriffe und der Terroristengruppe in Verviers, die Anschläge in Belgien planten und erst in letzter Minute gestoppt wurden, kommt ebenfalls von hier.
Spätestens seit dem Jahr 2000 spinnen gewaltbereite Islamisten in Molenbeek an einem roten Faden des islamistischen Terrors. Einer von zwei Selbstmord-attentätern, die als belgische Journalisten getarnt Ahmed Schah Massud, den Löwen vom Pandschir-Tal, zwei Tage vor den Angriffen auf das World Trade Center im Auftrag von Al Quaida töteten, lebte viele Jahre in Molenbeek. Die Zug-Attentate von Madrid 2004 wurden zumindest teilweise in Molenbeek von Hassan El Haski konzipiert. Sein Bruder gilt als verantwortlich für die Anschläge von Casablanca 2003 und Madrid ein Jahr später. Mehdi Nemmouche hat sechs Wochen in Molenbeek gelebt, bevor er 2014 das jüdische Museum überfallen und vier Menschen erschoss. Auch der Überfall auf den Thalys im Sommer begann auf dem Brüsseler Bahnhof Midi. Salah Abdeslam, ein Täter auf der Flucht, ruft nach den Attentaten einen Kumpel an und lässt sich aus Paris abholen. Seit seiner Rückkehr und nach einer französischen Polizeikontrolle verliert sich Abdeslams Spur in Molenbeek.
Geplant in Syrien, organisiert in Molenbeek, ausgeführt von belgischen und französischen Islamisten: Die Angriffe auf die Bevölkerung von Paris sind ohne Zweifel der größte kriegerische Akt, den die Pariser seit 1944 erlebt haben. Hätten belgische Behörden diese Taten durch bessere polizeiliche, geheimdienstliche und sozialpolitische Politik verhindern können? Ein Bombenangriff, wie vom französischen Polemisten Eric Zemmour empfohlen, käme jedenfalls zu spät, der Schaden ist angerichtet. Molenbeek wird sein Image der Terroristenhochburg so schnell nicht wieder los. Frankreich beschuldigt die belgischen Behörden recht offen des Versagens, ohne aber zu sagen, dass die Mehrheit der Täter Franzosen waren, dass sie den französischen Diensten bekannt waren und dass eben diese Dienste keinerlei Ahnung von den geplanten Anschlägen hatten. Insofern haben in Paris zwei nationale Verteidigungsstrategien gegen den Terrorismus versagt: die französische Variante mit weitgehenden Rechten für Polizei und Geheimdienst zum einen und zum anderen das belgische Modell des Laufenlassens, des oberflächlich Inte-grierens, des gezielten Wegschauens.
Molenbeek ist als eine der ärmsten Gemeinden Belgiens mit einer sehr dichten, zum Teil flächendeckend islamisch geprägten Bevölkerung und etwa 40 Prozent Jugendarbeitslosigkeit mit der Integration überfordert. Der langjährige Bürgermeister Philippe Moreaux, der jetzt von manchen zum Alleinschuldigen hochstilisiert wird, hat es als seinen größten Fehler bezeichnet, dass er Saudi-Arabien unkontrolliert den Islam habe großzügig fördern lassen. Wenn es stimmt, dass die belgischen Dienste trotz einer nicht unerheblichen arabischsprachigen Bevölkerung in Brüssel, nicht genug Übersetzer haben, um ihre Islamisten effektiv überwachen zu können, dann bedeutet die Einlassung von Philippe Moreaux nichts weniger, als dass diese in Molenbeek treiben konnten, was sie wollten. Die hohe Arbeitslosigkeit war lange Zeit durch großzügige Rahmenbedingungen abgefedert, jeder Schulabgänger hatte bis vor kurzem unmittelbar Anspruch auf Arbeitslosengeld. Hungerrevolten oder erbitterte Kämpfe um Toleranz und Anerkennung hat Molenbeek auch nicht erlebt.
Nicht die Polizei, die in Brüssel in verschiedene Zonen aufgeteilt ist, sondern die Geheimdienste sind im Vorfeld von Anschlägen gefordert. 150 von 750 Stellen in den belgischen Diensten waren zuletzt unbesetzt, selbst vollzählig sind die Überwacher mit hunderten belgischen Islamisten überfordert. Drei Viertel von extra zugewiesenen 200 Millionen Euro mussten für die Begleichung aufgelaufener Rechnungen aufgewandt werden. In Molenbeek gibt es bei rund 100 000 Einwohnern 21 Moscheen, einige davon als islamistisch bekannt. 40 Prozent der Bevölkerung sind Migranten oder haben Migrationshintergrund. Die radikalen Salafisten sollen sich in den vergangenen Jahren allerdings nicht mehr über diese Moscheen, sondern in geschlossenen Zirkeln bewegt haben. Eine Überwachung wird dadurch noch schwieriger.
Die enge Zusammenarbeit der Zelle in Molenbeek mit französischen Islamisten blieb auf beiden Seiten der Grenze unbemerkt. Man muss sich die Frage stellen, ob es nationenübergreifender Institutionen bedarf, um international agierende Terroristen auf Augenhöhe bekämpfen zu können. Guy Verhofstadt, Vorsitzender der liberalen Europafraktion, hat dies in einem Beitrag für die britische Zeitung The Guardian vehement gefordert. Laut Verhofstadt verfügt Frankreich über 3 000 Geheimdienstleute, die 5 000 Extremisten überwachen müssten. Das wiederholt nach Anschlägen vorgebrachte Versprechen der Staats- und Regierungschefs, polizeilich und geheimdienstlich zukünftig enger zusammenzuarbeiten, klingt mittlerweile abgedroschen. Es muss sich Grundlegenderes ändern, eine reibungslosere Zusammenarbeit wäre zu wenig. Dass türkische Behörden ihre französischen Kollegen gleich zweimal vor einem der Pariser Selbstmordattentätern gewarnt hatten, ohne dass dies Konsequenzen gehabt hätte, darf nicht wieder vorkommen.
Frankreich steht nach den Worten seines Präsidenten im Krieg. Es hat in der EU den Bündnisfall ausgerufen. Es steht mehr auf dem Spiel als die Frage, ob in Molenbeek alles richtig gemacht worden ist. 1080 Molenbeek muss zum Signal für eine neue europäische Anti-Terrorpolitik werden.