Am 15. Oktober erläuterte die EU-Handelskommissarin Cecilia Malmström die neue EU-Handelsstrategie im Ausschuss für internationalen Handel des Europäischen Parlaments. Die Kommission hatte sie erst einen Tag zuvor veröffentlicht. Während Cecilia Malmström den umfassenden Ansatz der neuen Strategie für das 21. Jahrhundert erläuterte, versuchten etwa 600 Aktivisten aus Belgien, Frankreich und Spanien den europäischen Gipfel zu „umzingeln“. Sie scheiterten mit ihrer Aktion, lösten aber, zusammen mit den polizeilichen Maßnahmen, die jeden Gipfel begleiten, ein Verkehrschaos aus, das selbst viele in diesem Punkt hartgesottene Brüsseler noch nicht erlebt hatten.
Am Wochenende vor dem Gipfel hatten in Berlin zwischen 150 000 (Polizei) und 250 000 (Veranstalter) Menschen gegen TTIP demonstriert. Das Freihandelsabkommen Transatlantic Trade and Investment Partnership ist in Deutschland der große Feind aller Wohlmeinenden und Weltverbesserer. An diesem Montag hat dazu die elfte Verhandlungsrunde in Miami begonnen, die eine Woche lang dauern wird. Allgemein hofft man, dass die Verhandlungen noch in der Amtszeit von Barack Obama abgeschlossen werden können, damit rechnen sollte man allerdings nicht. Es ist verwunderlich, dass Verhandlungen für bessere Handelsbeziehungen zwischen den beiden größten Wirtschaftsmächten der Welt in Deutschland so viel und woanders so wenig Emotionen hervorbringen.
An TTIP werden von allen Seiten Erwartungen geknüpft, die das Abkommen sicher nicht erfüllen kann. Es kann und wird nicht allein über das Schicksal der Welt, über Armut und Reichtum, Arbeit und Arbeitslosigkeit, Gesundheit und Krankheit sowie über die Stellung Europas im 21. Jahrhundert entscheiden. Aber es ist eines der Steine, die das Fundament für eine erfolgreiche Zukunft Europas bilden. Eine Analyse aus der Generaldirektion Außenpolitik des Europäischen Parlaments geht so weit zu behaupten, dass der Erfolg oder Misserfolg der Kommission Juncker in großem Maße vom Verhandlungsergebnis bei TTIP abhänge. Warum ist das so?
Alle Beteiligten, Kommission, Rat, EU-Parlament und die Aktivisten, sind sich einig, dass Handelspolitik im 21. Jahrhundert die wirtschaftlichen Beziehungen weltweit bestimmen wird. In der EU hängen schon jetzt 30 Millionen Jobs vom internationalen Handel ab, Tendenz steigend. Es wird geschätzt, dass 90 Prozent des weltweiten Wirtschaftswachstums in der Zukunft außerhalb Europas stattfindet. Bedingt durch technische Entwicklungen sind seit den 90er Jahren globale Wertschöpfungsketten entstanden, die das klassische Verständnis von Handel vollkommen über den Haufen geworfen haben. Das bedeutet, so die EU-Kommission, dass der Handel heutzutage das Herz jeder Ökonomie darstellt und nicht mehr wie in der Vergangenheit nur den vergleichsweise einfachen Export von Fertigwaren oder Rohstoffen ausmacht. Das erklärt auch, warum die reinen Zolltarife gar nicht mehr der Hauptstreitpunkt bei Freihandelsabkommen sind. Es geht vor allem um Dienstleistungen, Standards und den Schutz des materiellen und geistigen Eigentums. Hinzu kommt, dass die Welthandelsorganisation, die in diesem Jahr ihr 20-jähriges Bestehen feierte, praktisch nicht mehr funktioniert. Deshalb sind bilaterale Abkommen an die Stelle der großen Freihandelsrunden getreten, die früher GATT hießen und heute seit vielen Jahren in der Doha-Runde stagnieren.
Europa gewinnt durch den Welthandel, es hat aber auch viel verloren. Im Zuge der Globalisierung hat es eine oftmals starke Desindustrialisierung, die Abwanderung von Betrieben und häufig unfaire Handelspraktiken aushalten müssen. Hier liegen auch die tieferen Gründe für den Widerstand gegen TTIP. Über Jahrhunderte kamen die führenden Handelsmächte aus Europa. Damit ist es jetzt, selbst mit der mächtigen EU, vorbei. Die oben schon erwähnte Analyse des EU-Parlaments sieht Europa in Zukunft nicht mehr als führende Handelsmacht, sondern nur noch als eine, die höchstens die zweite Geige spielen kann. Noch bis 1990 hat die EU fast 45 Prozent des Welthandels abgewickelt und China lediglich knapp drei Prozent. 25 Jahre später ist die EU-Kommission stolz darauf, dass ihr Handelsvolumen fast so groß ist wie das chinesische.
Wegen dieser dramatischen Verschiebungen ist das Freihandelsabkommen mit den USA so wichtig. Es erscheint als die letzte Gelegenheit Europas, noch einmal in einer gemeinsamen Anstrengung mit den USA weltweite Standards zu setzen und die gemeinsamen Wirtschaftsbeziehungen zu stärken. TTIP ist in den USA genauso umstritten wie in Europa. Die Angst vor Verlusten war in der Geschichte fast immer größer als die Aussicht auf mehr Freiheit, die auch immer mehr Konkurrenz bedeutet. Nicht nur die aufstrebenden Länder, auch die USA sitzen am längeren Hebel. Am 12. Oktober wurde das Freihandelsabkommen Trans-Pacific Partnership (TPP) von zwölf asiatischen und amerikanischen Pazifikanrainern unterzeichnet. Es vereinigt 40 Prozent des globalen Bruttosozialprodukts, China ist noch nicht mit im Boot. Scheitert TTIP wird die EU nie wieder eine so gute Ausgangsposition haben wie in den aktuellen Verhandlungen.