Der britische Premierminister David Cameron hat Pech. Schon auf dem EU-Gipfel im Frühjahr wollte er darüber reden, mit welchen Konzessionen man Großbritannien in der EU halten könnte. Wegen der Griechen wurde nichts daraus. Das Gleiche ist ihm im Herbst wieder passiert. Ursprünglich hatte das britische In/Out-Referendum mit einer Diskussion über technische Details auf der Tagesordnung gestanden. Vordergründig hat die drängende Flüchtlingskrise alle anderen Themen unwichtig macht. Mitentscheidend für die Absetzung des Themas war aber auch, dass David Cameron und seine Regierung entweder nicht willens oder nicht in der Lage sind, konkrete, auf Papier ausdruckbare Forderungen vorzulegen, über die dann auch ernsthaft diskutiert werden kann. Zwei Tage vor Beginn des Gipfels hieß es lediglich, dass man sich „voraussichtlich“ über die Referendumsvorbereitungen informieren lasse.
Die linksliberale Tageszeitung The Guardian schrieb am gleichen Tag, dass sich im Entwurf der Schlussfolgerungen des Rates lediglich der Satz finde, der Rat sei über den Referendumsprozess informiert worden. Das neue Brüsseler Insidermagazin Politico meldete, dass Großbritannien eine Deadline bekommen habe, bis Ende November ausformulierte Forderungen auf den Tisch zu legen, wenn es denn wolle, dass sich die Staats- und Regierungschefs im Dezember mit seinen Forderungen befassen. Preben Aamann, Sprecher des Ratspräsidenten Donald Tusk, sah sich daraufhin genötigt, die Existenz einer solchen Deadline zu leugnen. Nicht leugnen kann man, dass eine EU-britische Arbeitsgruppe seit Monaten keinen Schritt vorankommt. David Cameron und die Briten drohen sich lächerlich zu machen.
Der Sunday Telegraph berichtete am Wochenende unter Berufung auf Quellen im Kabinett über vier Minimalforderungen. Erstens: Die EU soll eine bindende Absichtserklärung verabschieden, dass sich das Vereinigte Königreich aus allen weiteren Integrationsschritten heraushalten könne und nicht länger an das Selbstverständnis der EU gebunden sei, dass diese eine immer engere Union anstrebe. Zweitens: Eine Erklärung soll her, dass der Euro nicht die offizielle Währung der EU sei, um das britische Pfund zu schützen. Drittens: Nationale Parlamente sollen die EU-Gesetzgebung blockieren können. Viertens: Cameron möchte eine neue Struktur der EU, die diese so organisiert, dass die neun Staaten, die nicht Mitglied der Währungsunion sind, nicht von den anderen dominiert werden können – mit einem besonderen Fokus auf dem Schutz des Londoner Finanzplatzes.
Für die Briten scheinen das allerdings nicht die entscheidenden Fragen zu sein. Ihnen geht es vor allem um Einwanderung. Laut einer Umfrage des britischen Meinungsforschungsinstitutes Ipsos MORI von Juni/Juli fordern 60 Prozent Einschränkungen beim Recht auf freien Personenverkehr innerhalb der EU, 14 Prozent wollen dieses Recht ganz abschaffen. 70 Prozent derjenigen, die Einschränkungen befürworten, tun dies auf Grund von Befürchtungen, dass der Sozialstaat durch den freien Personenverkehr zu sehr belastet werde. Für 62 Prozent ist denn auch die Einschränkung der Bewegungsfreiheit der wichtigste Punkt in den Verhandlungen des Vereinigten Königreichs mit der Europäischen Union. 38 Prozent wollen, dass nationale Parlamente die EU-Gesetzgebung blockieren können, jeder dritte ist der Meinung, dass der Londoner Finanzplatz besonders geschützt werden müsse und ein Viertel will aus der Verpflichtung zu einer immer engeren Union austeigen. Insgesamt wollten dennoch 52 Prozent für einen Verbleib in der EU stimmen und dass, obwohl zwei Drittel der Meinung waren, dass David Cameron keine besonderen Konzessionen erreichen werde. Sollte es aber keinerlei Konzessionen bei der Bewegungsfreiheit geben, so würden sich statt 52 nur noch 36 Prozent für einen Verbleib in der EU entscheiden.
Durch die aktuelle Masseneinwanderung in die EU wird das Problem, das die Briten mit der Reise- und Niederlassungsfreiheit der EU-Bürger haben, noch einmal verschärft. Die vom Telegraph genannten Forderungen laufen auf ein vollständiges Vetorecht der Briten gegenüber jedem Integrationsfortschritt bei gleichzeitigen Sonderrechten hinaus. Das kann und das muss der Europäische Rat ablehnen, egal, zu welchem Zeitpunkt das Thema schlussendlich diskutiert wird. Alles andere wäre Selbstaufgabe und würde die Axt an die Grundfesten der Europäischen Union legen. Die aktuellen Krisen erhöhen den Druck für eine weitere Integration in allen Politikbereichen.
Die EU steht in ihrer jetzigen Verfassung mit dem Rücken zur Wand. Ihre Uneinigkeit wird von Russland ausgenutzt, ihre weitgehend national bestimmte Migrations- und Asylpolitik macht sie unfähig, ihre Grenzen zu sichern, ihre Währungsunion kann ohne weitergehende Integration der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik auf Dauer nicht bestehen, militärisch ist sie ein Zwerg, der sich nicht verteidigen kann, obwohl die addierten Militärhaushalte horrende Summen ergeben und auf der Weltbühne wird sie mehr und mehr zur Lachnummer. Europa braucht einen neuen Aufbruch, keinen neuen Nationalismus, wenn es sich behaupten will.