„Thank you, Austrian People!“ Übers ganze Gesicht strahlende Jungs halten Pappschilder hoch, gegenüber stehen Wiener_ innen mit selbst gemalten Willkommensschildern und strahlen zurück.
Menschen kommen, gehen, steigen in Züge, aus Zügen. Gruppen ziehen vorbei, Großfamilien, Kinder, junge Männer, vor allem junge Männer. Freudige Gesichter, bei denen, die ankommen, bei denen, die sie in Empfang nehmen, sie zu diesem oder jenem Bahnsteig geleiten. Die sie mit Snacks und Keksen erwarten. Jemand rennt mit einem Tablett voll Kaffeebechern von McDonalds herum. Passantinnen werden transparente Spendenboxen unter die Nase gehalten, in denen sich Geldscheine kringeln. Wer für Zugfahrkarten für die Flüchtlinge spenden will, stellt sich artig an einem Tischlein an. Schließlich wollen alle nach Germany.
Überall sind Leute unterwegs mit Taschen voller Geschenke, in den Netzwerken werden die Anforderungen dauernd aktualisiert. Keine Jacken mehr, heißt es dann plötzlich, jetzt Zahnpasta, Spielzeug. Der Stand der islamischen Community ist mit Rat und Tat vertreten, Kopftuchmädchen dolmetschen fleißig, lotsen die Ankommenden in die entsprechenden Auffangstellen. Mitglieder von Hilfsorganisationen wuseln herum mit Schildchen um den Hals mit ihren Funktionen und Angeboten, in Englisch und Arabisch. Die wenigen Polizist_innen scherzen und flirten ein bisschen untereinander, wie das Wiener Polizist_innen gern tun.
Rund um die Bahnsteige und in der Halle sind Tische aufgestellt und Decken mit Spenden ausgebreitet. Obst und Süßigkeiten türmen sich. Eine heitere Flohmarktstimmung herrscht, es gibt alles mögliche Brauchbare, auch extrem Unbrauchbares. Welche Frau, die Meer, Ungarn und langen Märschen getrotzt hat, will sich die Knöchel brechen auf abgetretenen Stilettos? Und überall kuscheln Kuscheltiere.
Die alteingesessenen Bettler_innen streunen skeptischen Blicks herum, ein bisschen neidisch schauen sie auf die Konkurrenz. Sie würden sich eh auch bei ihnen bedienen, meint eine junge Helferin.
Eine mobile Bedürfnisanstalt ist angerollt, mit der Aufschrift „Sie müssen? – Sie dürfen!“ versehen, Wiener Wortwitz, der der jetzigen Zielgruppe vermutlich entgeht.
Besonders sichtbar ist das Elend auf den ersten Blick nicht, manche der Ankommenden sind besser gestylt als der Durchschnittswiener, Jungs mit modischem Schopf über Seitenrasur, Mädchen mit keckem Kopftuch. Eine entspannte Atmosphäre herrscht in dem ganzen Treiben, oder Trubel, alles wirkt zugleich improvisiert und professionell, wird freundlich und unaufgeregt abgewickelt.
Dazwischen Einzelne, die nach Tulln oder Pressbaum heimfahren, plötzlich haben sie die Welt vor der Haustür, vor dem Regionalzug. Manche stehen und schauen und schauen und stehen, wie in Trance, vor diesem Fluss, in diesem Film, in den sie plötzlich geraten sind.
Es ist der 5. September, der Tag, an dem der Herbst Einzug hält mit Wind und Regen und Kälte. Der Tag, an dem die Flüchtlinge in Wien Einzug halten. „You are safe here!“ steht auf Plakaten an der Wand.
Vor dem Westbahnhof zwängt sich eine Großfamilie in ein Taxi, der Chef mit einem verwitterten Gesicht und in einem altertümlich schicken schwarzen Mantel feilscht mit dem Fahrer um den Preis. Ein kleiner Junge zerrt, außer sich vor Glück, ein bilderbuchschönes Holzpferd hinter sich her, das größer ist als er selber, er rennt durch den peitschenden Regen über die Zebrastreifen, das Geschimpfe des Vaters im Nacken. Sicher kein Flüchtlingskind, so zielstrebig, wie er davon galoppiert, wahrscheinlich hat er das Pferd in einer Spendenecke aufgetrieben.
Auf den Bahnsteigen ist das Treiben hektischer geworden, immer mehr folgen dem Aufruf von Mother Mörkel. Helfer mit über den Köpfen wedelnden Händen geleiten die Gruppen über die Steige, zu den Zügen nach Germany. An den Wänden hängen Standortbestimmungen, wie man sie in U-Bahnen sieht. „You are here!“ Der Standort Österreich ist knallrot markiert, die Route nach Germany und Skandinavien gekennzeichnet. Austria – vereinzelt wird von Flüchtlingen berichtet, die es kategorisch ablehnen, Asyl in Australien zu beantragen.
Es gibt noch einige Willkommensschilder, freundliche Geschöpfe, die Speis’ und Trank anbieten, Helferinnen, die hinter Bergen von Äpfeln und Orangen plaudern. Bei McDonalds entspannen Kopftuchfrauen mit ihren Familien.
Es sind aber beinahe ausschließlich junge Männer, die gerade ankommen. Die Flüchtlinge schauen abgerissener aus, viele Afghanen sind unter ihnen. Je dunkler die Hautfarbe, desto weiter ist die Reise gewesen, desto ärmlicher und erschöpfter sind die Flüchtlinge. Das scheint eine Regel zu sein. Ein Afrikaner mit zündholzdürren Beinen in Shorts und hohen, schwarzen Kniestrümpfen schleppt sich mit Taschen ab, unter deren Gewicht er immer wieder einknickt. Ein schöner Afghane mit dem allerneuesten Haartrend, einem seitlich in die Stirn fallenden Haarvorhang, flirtet mit einem blonden Helfer, drei fesche Jungs bandeln mit einer jungen Wienerin an, es geht lustig zu.
Eine knochige Frau in einem Hardcore-Mini und einer wie übergestülpt ausschauenden Lockenfrisur, vermutlich eine Trans-Frau, zieht mühsam auf Stöckelschuhen ihre Runden, ein Grüppchen von Jugendlichen, die auf einen Zug nach München warten, stoßen einander grinsend an.
Ein junger Mann mit einem Schild von einer Hilfsorganisation nähert sich. Interview?, fragt er mich. Er spricht schlecht Englisch und kein Deutsch, es dauert ein Weilchen, bis er kapiert, dass ich keine Refugee bin und kein Interview gebe. Er entschuldigt sich tausend Mal. Ich beruhige ihn, das sei ja keine Schande. Oder habe ich ihn etwa falsch verstanden und er will mir jemand anbieten, der mir ein Interview geben will? Hält er mich für einen herum lungernden Medienmenschen, vielleicht will einer der Burschen, mit denen er sich jetzt angeregt unterhält, seine Geschichte verkaufen? Flüchtlingsgeschichten sind derzeit gefragt. Bomben, Schiffbrüche, Hunger, Stacheldraht, bald wird keiner mehr es hören wollen.
Menschenmassen im und um den Westbahnhof. Es gibt ein größeres Aufgebot an Polizist_innen, die aber immer noch nicht einschüchternd wirken. Ordnungshüter im besten Sinn. Deutschland hat dicht gemacht, heißt es, der Rail Jet nach dem Traumziel München verkehrt nicht. Verwirrung macht sich breit, die Willkommenskultur der Österreicher, die praktischerweise, Hallo and Goodbye, auch eine Verabschiedungskultur war, wird auf die Probe gestellt. Was jetzt? Nachtquartiere müssen in Windeseile organisiert werden. Die meisten hier aber wollen nur weiter, Mekka Germany, dafür harren sie auf den Bahnsteigen aus, lagern rund um den Bahnhof und in den weitläufigen Unterführungen des Shopping-Areals. Es gibt immer noch wenige Asylanfragen. Why not Austria?, fragten ORF-Journalisten schon ein bisschen kleinlaut in einem Zug in Ungarn, die Antwort lautete obsessiv: Germany, Germany.
Unten in der Schalterhalle stehen die Menschen immer noch Schlange, um Tickets zu ergattern, Mother Mörkel kann sie doch nicht im Stich lassen auf einmal. Es scheint nur noch Flüchtlinge zu geben, die eine Fahrkarte wollen, Einheimische scheinen das Zugfahren eingestellt zu haben. Ein muffiger Geruch macht sich breit, steigt auf aus all den Anoraks und Jacken, die aus Spendensäcken ausgegraben wurden. In der Spendenabteilung heißt es, man brauche Männerdeos und Zahnbürsten.
Draußen, unterwegs zur U-Bahn, spricht mich ein junger Mann an. Er sieht aus wie ein Student, wie ein junger Akademiker, auf dem Arm trägt er ein Kind, zwei junge Kopftuchfrauen und zwei weitere Kinder begleiten ihn. „Is this the way to Germany?“ Ich sage Nein, und dass Germany dicht gemacht hat. Er ist vollkommen verwirrt.
Deutschland hat zugemacht, zwar nicht wirklich, heißt es später, aber doch, ein bisschen, Ungarn macht bald dicht. Wer noch kann, kommt jetzt, ist schon hier. Elendskarawanen ziehen vorbei, überall kauern, liegen Menschen, vor, hinter, um den Bahnhof herum, auf Decken, Matten, auf dem bloßen Boden. Männer ohne Schuhe, die Füße verbunden oder geschwollen; Kinder, die auf der Erde herum kriechen neben ihren zusammen gesackten Müttern. In einem kleinen, stickigen, fensterlosen Raum mit Spielzeug und Matten toben ein paar Kinder, ein Mann fegt nervös herum, der jungen Helferin scheint die Euphorie ein bisschen ausgegangen zu sein. Vor den Fahrkartenschaltern staut sich immer noch die Menge, die den Traum von Deutschland nicht begraben will. Zum ersten Mal werde ich von Flüchtlingen angebettelt, ein Mann mit einer Bierdose in der Hand will mich zu einem Schalter manövrieren, ein Junge aus Syrien will nach Munich, please.
Überall türmt sich Abfall, zum ersten Mal scheinen Organisation und Infrastruktur überfordert zu sein, der bisher erstaunlich saubere Bahnhof vermüllt.
Eine blonde Frau und ihre Kinder beugen sich mit Tabletts voller Süßigkeiten zu Flüchtlingsfamilien herab, die auf dem Boden kauern oder liegen, das Gesicht der helfenden Kinder leuchtet.
Die Grenze zu Ostösterreich hat Ungarn geschlossen, die Flüchtlinge haben sich andere Routen gesucht. Der Bahnhof ist piccobello, wenn man nicht wüsste, was derzeit los ist, würden einem die jungen Männer, die hier herum hängen, kaum auffallen.
Auf einem Koffer im Einkaufsbereich sitzt ein dunkles Kind auf einem Koffer. Das dunkle Kind entpuppt sich beim Näherkommen als Bronze-skulptur. Das dunkle Kind mit dem erloschenen Gesicht erinnert an die Kindertransporte in der Nazizeit, an 10 000 gerettete Kinder. Die Skulptur ist dem britischen Volk, einem Rabbi, Urchristen und Quäkern gewidmet. Der berühmte Spruch aus dem Talmud ist eingraviert: „Wer ein einziges Menschenleben rettet, der ist, als hätte er die ganze Menschheit gerettet.“
Während die Skulptur fotografiert wird, kommt ein junger Mann angehüpft, übermütig wie ein Kind, hüpft ins Bild und legt den Arm um den Bronzejungen.