Mariana und Azad* warten schon. In dem Versammlungsraum mit den weiß gestrichenen Wänden, den kleinen weißen Tischen, die man zu einem einzigen großen weißen Tisch zusammengerückt hat, und den weißen Stühlen davor. Nur der schwarze Bildschirm eines Flach-Fernsehers stört die weiße Einheitlichkeit im Raum. Das Centre Lily Unden auf dem Limpertsberg sieht fast überall weiß aus, von außen auch. Was dazu passt, dass das Erstaufnahmezentrum der Croix-rouge für Kriegsflüchtlinge und Asylbewerber ein Durchgangsort ist, an dem keiner lange bleibt.
Auch Mariana und Azad sind erst diese Woche hier angekommen. Ende zwanzig, Anfang dreißig mögen sie sein. Sie, eine kleine Frau in Jogginghose und Sweatshirt und mit schwarzen Locken, er, ein hagerer Mann mit schwarzem Kurzhaarschnitt und beginnendem Vollbart. Kennengelernt haben sich die beiden erst auf der Flucht, die schon eine Weile dauert.
Aus Aleppo kommen sie, der nordsyrischen Zwei-Millionen-Stadt, in der vor Ausbruch des Bürgerkriegs das Herz von Syriens Wirtschaft schlug und in der es immer freier und freizügiger zuging als anderswo in der bizarren Familienclan-Diktatur der Assads. Aleppo sei eine Stadt gewesen, „die niemals schlief“, beginnt Azad zu schwärmen. Und außerdem „die älteste Stadt der Welt“, insistiert Mariana. In Damaskus behaupten die Leute von ihrer Stadt dasselbe, der Streit zwischen beiden um den Status „die Älteste kontinuierlich Besiedelte“ ist legendär. Und selbst im Krieg geht offenbar der Stolz auf Aleppo nicht unter. Wenngleich dort heute „nichts mehr ist“, sagt Azad. Die quirlige Geschäftigkeit, das pittoreske Armenierviertel, die vielen Russendiskos in der Innenstadt – „alles zerbombt“.
Rashida und ihr Bruder Karim* kommen ebenfalls aus Aleppo. Am Sonntag vergangener Woche trafen sie in Luxemburg ein, gemeinsam mit den Eltern und noch weiteren Geschwistern. Rashida ist eine Frau mit großen Augen, die gern redet und viel lacht. Ihr Bruder sieht übermüdet aus, lässt sein Gesicht immer wieder in die flachen Hände fallen und lächelt verlegen, wenn er wieder zurückfindet in den weißen Versammlungsraum in Luxemburg-Limpertsberg.
„Zwei Schwestern und ich gingen zunächst nach Beirut“, erzählt Rashida. „Wir suchten Sicherheit und Unterschlupf vor den Kämpfen in Aleppo.“ Der Libanon hat seit Ausbruch des Bürgerkriegs im Nachbarland fast zwei Millionen syrischer Flüchtlinge aufgenommen; bei einer Landesbevölkerung von 4,5 Millionen, was das Flüchtlingsquotengefeilsche in der EU erbärmlich aussehen lässt. Doch anscheinend kollaboriert die schiitische Hezbollah, deren Einfluss als politische Partei wächst und deren Milizen im Libanon sehr präsent sind, mit den syrischen Behörden, Flüchtlinge aufzugreifen und wieder zurückzuschicken. Rashida und ihren Schwestern erging es so. Zurück in Syrien fanden sie das Haus der Familie zerbombt vor. Eltern und Geschwister waren bei Verwandten untergekommen. Den Schwestern, die in den Libanon zu fliehen versucht hatten, erlegten die Behörden ein Ausreiseverbot auf. Das habe sie angefochten, sagt Rashida, mit einem Anwalt, mit der Hilfe der NGO Human Rights Watch und Uno-Vertretern, die vor Ort in Aleppo waren. Vor einem Monat schließlich ließ man sie und die ganze Familie ziehen.
Azad sei „Aktivist gegen das Regime“ gewesen, erzählt er. An der Universität von Aleppo hatte er ein Ökonomiestudium begonnen. Doch schon vor zwei Jahren habe die Universität ihren Betrieb eingestellt. „Aleppo ist schon lange nicht mehr sicher“, sagt Azad. „Man kann die Stadt nicht mehr durchqueren. Stadtteil für Stadtteil wird von verschiedenen Fraktionen kontrolliert. Mal sind es die Rebellen der Syrischen Befreiungsarmee, mal al-Kaida, mal die laizistische Opposition, wobei die zum Teil mit al-Kaida kooperiert. Auf den Häuserdächern liegen Scharfschützen. Es gibt überall Checkpoints, und wenn man ‚der Falsche’ ist, riskiert man, auf der Stelle erschossen zu werden.“
Nach Ausbruch der Kämpfe um und in Aleppo ging Azad 2012 zunächst in die Türkei und arbeitete auf einem Kreuzfahrtschiff. 2013 glaubte er, der Norden Syriens sei „befreit“ und ging nach Aleppo zurück. „Als ich dort das Chaos sah und den Krieg zwischen dem Regime und den Terroristen, beschloss ich, wieder zu gehen. Diesmal nach Erbil im Irak.“ Azad ist Kurde, Mariana auch. Sie war in Aleppo Studentin in Kommunikationsmanagement gewesen und hatte die Stadt 2013 Richtung Erbil verlassen. „Die Bombardements waren nicht mehr auszuhalten.“ Erbil, die Hauptstadt der autonomen Kurdenregion im Irak, schien ein sicherer Ort. Dort lernten Mariana und Azad sich kennen und heirateten. „Leider“, sagt Mariana, „ist mittlerweile auch Erbil nicht mehr sicher. Immer wieder wird es von IS-Kämpfern angegriffen.“ Am 1. August brach das Paar nach Europa auf.
„Sie können sich wahrscheinlich nicht vorstellen, was in Izmir los ist“, sagt Azad. „Da kommen so viele Menschen zusammen, Syrer, Iraker, Afghanen, ... Für die lokale Bevölkerung muss das sehr verstörend sein, denn es sind viele Tausend Menschen pro Tag. Im Hafen von Izmir, wo jeder ein Fährschiff nach Griechenland erreichen will, herrscht ein solcher Andrang, dass es in der Menschenmenge schwerfällt zu atmen.“
Kriegsflüchtlinge im 21. Jahrhundert sind begabte und risikobereite Menschen, die noch mit den widrigsten Umständen fertig werden – den Eindruck gewinnt man im Gespräch mit den vieren aus der „ältesten Stadt der Welt“. Mariana zum Beispiel gelang es mit einer falschen Identität einen Flieger von Athen nach Rom zu erwischen und im Zug über Bozen nach Deutschland zu reisen. Als sie in einer Erstaufnahme im hessischen Marburg angekommen war, war ihr Mann noch immer in Athen.
Warum sie sich trennten, erzählen die beiden nicht; Azad, der die „Balkanroute“ über Mazedonien, Serbien und Ungarn nahm, hatte Glück, bis kurz vor die ungarische Grenze in Zügen und Bussen reisen zu können. In Ungarn sei es schwieriger gewesen. „Nur dort habe ich mich manchmal gefragt, ob ich nicht besser in Syrien hätte bleiben sollen.“ Nur dort seien nicht nur „alle Polizisten“ feindselig eingestellt gewesen, sondern auch große Teile der Bevölkerung. „Ladenbesitzer zum Beispiel waren oft nicht bereit, einem Flüchtling Lebensmittel zu verkaufen.“ In Budapest schließlich zahlte Azad einem Schleuser 550 Euro für die Passage im Auto bis ins erste Dorf in Bayern. In Marburg wieder mit seiner Frau zusammen, beschließen beide ziemlich per Zufall nach Luxemburg weiterzureisen. „Im Internet“ hätten sie gelesen, dass es dort „gut“ sei.
Vernetzt zu sein kann regelrecht überlebenswichtig werden. Rashida und ihre Familie durchquerten halb Griechenland zwischen Athen und der mazedonischen Grenze zu Fuß. „Schnell waren wir nicht, unsere Eltern können nicht mehr so gut laufen. Manchmal schafften wir nur zehn Kilometer an einem Tag.“ Als die Familie in Serbien eintrifft, verlangen Schleuser 200 Euro pro Kopf für eine Fahrt nach Belgrad. „Weil wir uns das nicht leisten konnten, habe ich im Internet ausfindig gemacht, welchen Weg die Schleuser nehmen, und mir gedacht: Das schaffen wir alleine! Zum Glück habe ich ja meinen Laptop dabei.“ Am Ende marschiert die Familie, von kurzen Taxifahrten abgesehen, große Teile des Wegs zur serbisch-ungarischen Grenze zu Fuß. „Wir versteckten uns in Feldern und an Flüssen vor der Polizei. Das letzte Stück bis zur Grenze liefen wir immer parallel zur Autobahn.“ In Ungarn angekommen, findet die Gruppe zwei Taxis, die sie nach Budapest bringen, und dort ergattern sie Fahrkarten für einen Direktzug nach München. Mit Schleusern im Auto zu fahren hätte pro Kopf 650 Euro gekostet. „Das hätten wir nicht bezahlen können. Wir sind schließlich zu siebt.“
Nach Luxemburg gelangten auch Rashida und ihre Familie eher zufällig. „Wir wollten nicht in Deutschland bleiben, wollten eigentlich nach Dänemark. Wir waren schon weitergereist nach Berlin, als wir erfuhren, dass Dänemark gesperrt ist für Flüchtlinge. Im Internet lasen wir, dass Luxemburg uns aufnehmen könnte.“ Dorthin reist die kleine Gruppe mit dem Bus. Eine deutsche Flüchtlingshilfe-Organisation hatte beim Kauf der Tickets geholfen.
Heute warten alle darauf, wie das Verfahren über die Anerkennung als Kriegsflüchtling ausgeht. Ohne „Statut“ kann ein Flüchtling in den ersten neun Monaten nach seiner Ankunft hierzulande keine Arbeit suchen, und danach nur unter Schwierigkeiten. Für die Wohnungssuche ist das „Statut“ von Anfang an wichtig. Lediglich für Flüchtlingskinder gilt die Schulfpflicht, egal in welcher statutarischen Lage die Eltern sind.
Was sie sich von der Zukunft erhoffen? – Zunächst einmal sind Mariana, Azad und Rashida „erleichtert“, dass ihre Reise ein Ende gefundenhat. Mariana und Azad würden gern ihre in Aleppo begonnenen Universitätsstudien abschließen und sich „dafür integrieren“, sagt Mariana. Nach Syrien zurückzugehen können sie und ihr Mann sich vorstellen, „aber ehrlich gesagt habe ich im Moment nicht viel Hoffnung für mein Land“, fährt Mariana leise fort.
Rashida dagegen will unbedingt zurück. „Ich hoffe sehr, dass es in Syrien besser wird.“ Sie habe, sagt sie, ihre Würde in Syrien zurückgelassen und das Gefühl, wiedererlangen könne sie die nur dort.