Am Dienstag trafen 42 Kriegsflüchtlinge aus Syrien in der Weilerbach ein. Vergangenen Monat beantragten 188 Leute, vorwiegend aus Syrien, dem Kosovo und Albanien, Asyl in Luxemburg. Sie sind nur ein Teil jener Migranten, über die in den vergangenen Monaten wie über kaum ein anderes Thema geredet und geschrieben wurde: von Bemühungen der Regierung, wohlhabende Touristen und Expats anzuziehen, über die Ablehnung des Ausländerwahlrechts bei einer Volksbefragung und Warnungen vor einer neuen „Flüchtlingswelle“ bis hin zu Hetzkampagnen in verschiedenen Medien gegen eingewanderte Bettler.
Der Migrant sei die herausragende Figur des 21. Jahrhunderts, vom morgendlichen Berufspendler über den Touristen und Auswanderer bis hin zum Asylsuchenden aus einem Kriegsgebiet, meint Thomas Nail, Philosophieprofessor an der Universität von Denver, in seinem Ende des Monats erscheinenden Buch The Figure of the Migrant (Standford University Press). Darin versucht er, eine politische Theorie nicht bloß des Flüchtlings, wie Giorgio Agamben, sondern des Migranten zu entwickeln. Nail betrachtet dabei die Figur des Migranten nicht aus der Sicht des Staates, als einen gescheiterten Staatsbürger, sondern als politisches Subjekt aus der Sicht einer Gesellschaft in ständiger Bewegung.
Im Laufe der Geschichte sind Wanderbewegungen für Thomas Nail das Ergebnis unterschiedlicher Formen und Intensität der gesellschaftlichen Ausgrenzung gewesen, territorialer, politscher, rechtlicher und wirtschaftlicher (S. 5). Er stellt aber vor allem klar, dass „the figure of the migrant is not a ‚type of person’ or fixed identity but a mobile social position or spectrum that people move into and out of under certain social conditions of mobility“ (S. 235).
So kam es immer wieder vor und wird wohl irgendwann in der Zukunft auch wieder vorkommen, dass ein Teil der Bevölkerung hierzulande die gesellschaftliche Position der derzeitigen Asylsuchenden aus den Kriegs- und Krisengebieten Nordafrikas und des Nahen Ostens einnehmen muss. Zuletzt war das vor einigen Jahrzehnten, während des Zweiten Weltkriegs, der Fall, und zwar in einem Umfang, der sich durchaus mit den derzeitigen Bewegungen von Kriegsflüchtlingen vergleichen lässt.
Als die deutsche Wehrmacht am 10. Mai 1940 das Land überfiel und nach Süden vordrang, um die französische Armee anzugreifen, flüchteten insbesondere im Süden des Landes Zehntausende nach Frankreich, bis in die Gegenden von Mâcon und Montpellier. Staatsminister Pierre Dupong gab 1945 vor dem Parlament ihre Zahl mit 60 000 an, inzwischen gibt es einen Konsens, sie auf 47 000 zu beziffern. Weitere 45 000 Leute flüchteten innerhalb des Landes, ins Zentrum und ins Ösling. Die meisten wurden von den Gemeindeverwaltungen aus den Städten des Minette-Gebietes evakuiert, wo der Kampf zwischen deutschen und französischen Truppen tobte. Da Mütter mit Kindern und Männer verschiedentlich getrennt evakuiert wurden, wurden viele Familien für Wochen oder Monate auseinandergerissen.
Serge Hoffmann vom Staatsarchiv schildert im Ausstellungskatalog ...et wor alles net esou einfach, wie der französische Generalstab sich bemühte, auch die Luxemburger Flüchtlinge zu versorgen, obwohl er die französische Bevölkerung aus dem Kampfgebiet im Norden evakuieren musste und zahlreiche Flüchtlinge aus Belgien und den Niederlanden nach Frankreich kamen. Die Flüchtlinge selbst und die Luxemburger Behörden seien alle voll des Lobs gewesen für die Gastfreundschaft, mit der die französische Bevölkerung trotz aller eigenen Entbehrungen Zehntausende Luxemburger Flüchtlinge aufnahm. Einem Teil der Flüchtlinge sei es gelungen, eine Arbeit zu finden, um beispielsweise Franzosen zu ersetzen, die zu den Waffen gerufen worden waren; andere waren auf die Unterstützung durch das Rote Kreuz und Spenden wohlhabender Landsleute angewiesen.
Die 47 000 nach Frankreich Evakuierten und die 45 000 Inlandsvertriebenen machten im Frühjahr und Sommer 1940 insgesamt 92 000 Kriegsflüchtlinge aus. Der ehemalige Direktor des Statec, Georges Als, schätzte im Lëtzebuerger Land vom 27. Juli 1973 die Gesamtbevölkerung des Landes im Jahr 1940 auf 293 000. Das heißt, dass 32 Prozent der Luxemburger, jeder Dritte, im Frühjahr und Sommer 1940 ein Kriegsflüchtling war.
Nach dem Waffenstillstand zwischen Deutschland und der späteren Vichy-Regierung am 22. Juni 1940 wurden die Flüchtlinge bis auf 600 Juden und Antifaschisten, die sich in den freien Teil Frankreichs absetzen konnten, in Zügen und Bussen zurück nach Luxemburg geschickt. „Quelle n’est pas la surprise des rapatriés“, berichtet Serge Hoffmann, „lorsqu’ils retrouvent souvent leurs propres maisons soit vidées de ses meubles, soit abîmées ou même parfois occupées par de nouveaux ‚locataires’!“
Auch nach der Rückkehr dieser Kriegsflüchtlinge ging die massive Bevökerungsbewegung weiter. Laut einer Aufstellung des Innenministeriums von 1972 wurden ab 1942 durch die Zwangsrekrutierung in den Reichsarbeitsdienst und in die deutsche Wehrmacht 10 211 Männer nach Deutschland oder an die Ostfront deportiert. Auch ein Teil der 3 614 in den Arbeitsdienst und den Kriegshilfsdienst eingezogenen Frauen wurde nach Deutschland deportiert.
Laut dem Livre d’or de la résistance luxembourgeoise wurden ab September 1942 als Strafmaßnahme für Antifaschisten und Patrioten 4 186 Einwohner umgesiedelt, vor allem nach Schlesien, ins Sudetenland und in den Hunsrück.
Weitere 3 963 Luxemburger wurden nach Deutschland und Osteuropa in Konzentrationslager und Gefängnisse verschleppt. Viele wurden ermordet oder starben an den Haftbedingungen.
„Le nombre total des personnes de nationalité luxembourgeoise déplacées par l’ennemi de mai 1940 à septembre 1994“, rechnet der ehemalige Leiter des Commisariat au rapatriement, Alex Boever, im Livre d’or de la résistance luxembourgeoise vor, „est (en chiffre rond) de 32 000, dont 21 000 civils et 11 000 enrôlés de force. Les 21 000 civils comprennent : les déportés, les détenus en prison ou camp de concentration, les évadés et les déplacés de force (dienstverpflichtet)“ (S. 665). Gemessen an der Gesamtbevölkerung im Jahr 1940 machen 32 000 Verschleppte, Umgesiedelte und Zwangsrekrutierte elf Prozent aus.
Nicht enthalten sind in diesen Zahlen die Ausländer, die zur Zeit des deutschen Überfalls in Luxemburg lebten, darunter aus Deutschland geflüchtete Juden und Antifaschisten, die sich nicht rechtzeitig in Sicherheit bringen konnten und in Konzentrationslager und Gefängnisse verschleppt wurden. Nach der Befreiung waren aber auch 7 655 Ausländer in Luxemburg registriert, die heimkehren wollten, vor allem Zwangsarbeiter aus Osteuropa und Deutsche. Rund 45 000 Franzosen, Belgier und Niederländer durchquerten das Land auf dem Weg aus Deutschland in ihre Heimat und wurden verpflegt und behandelt.
Von den Luxemburger Staatsbürgern kehrten am Ende des Kriegs 26 242 nach Luxemburg zurück. 5 758 waren tot oder vermisst. Über die Deportierten anderer Staatsbürgerschaft wurden meist keine Statistiken geführt.
Nach der Befreiung im September 1944 hatte die deutsche Wehrmacht von Dezember 1944 bis Februar 1945 eine Gegenoffensive durch die Ardennen versucht. Die Kämpfe in den Dörfern und Städten des Öslings lösten eine neue Flüchtlingswelle aus. „Vers fin janvier 1945, environ 50 000 réfugiés luxembourgeois étaient massés dans les cantons de Redange, Mersch, Capellen, Luxemburg et Esch/Alzette, dont, suivant recensement 14 000 personnes étaient logées ou hébergées à Luxembourg ville et faubourgs“, so das Livre d’or de la résistance luxembourgeoise (S. 661). Nach Angaben von Georges Als betrug die Einwohnerzahl 1944 noch rund 285 000. Die während der Ardennenoffensive vertriebenen Kriegsflüchtlinge machten also 18 Prozent der Bevölkerung aus.
Rechnet man die Zahl der Kriegsflüchtlinge nach dem deutschen Überfall 1940 und der Ardennenoffensive 1944 sowie der während des Kriegs Verschleppten, Umgesiedelten und Zwangsrekrutierten zusammen, kommt man auf 174 000 Personen oder 59 Prozent der Bevölkerung. Die tatsächliche Zahl dürfte niedriger gewesen sein, da beispielsweise manche Kriegsflüchtlinge von 1940 zwei Jahre später zwangsrekutiert oder umgesiedelt wurden. Man kann aber schätzen, dass etwa die Hälfte der Bevökerung zu irgendeinem Zeitpunkt binnen vier Jahren durch Kriegseinwirkungen vertrieben wurde. Eine Größenordnung, die nicht mit derjenigen der paar hundert Flüchtlinge zu vergleichen ist, die heute unter anderen wirtschaftlichen Bedingungen mit viel Aufhebens untergebracht und versorgt werden.