Syrischer Bürgerkrieg

Wo ist Europa?

d'Lëtzebuerger Land vom 02.10.2015

Niemand kann der Europäischen Union vorwerfen, dass ihre Politik im syrischen Bürgerkrieg gescheitert sei. Aus einem einfachen Grund: Es gibt sie gar nicht. Zwei Beispiele unterstreichen das eindrucksvoll. In ihrem Statement nach dem Sondergipfel zur Flüchtlingskrise am 23. September in Brüssel äußerten sich die Staats- und Regierungschefs folgendermaßen zum syrischen Bürgerkrieg: „Was Syrien angeht, so erneuern wir unseren Aufruf für eine UN-geführte internationale Anstrengung, um den Krieg zu beenden, der so viel Elend hervorgebracht hat und geschätzte zwölf Millionen Menschen gezwungen hat, ihre Heimat zu verlassen; die EU verpflichtet sich hierzu ihren Beitrag zu leisten.“ Diese Aussage der Mächtigen der EU kommt einem Offenbarungseid gleich.

Die französische Tageszeitung Le Figaro hat es in ihrer Ausgabe vom 28. September fertiggebracht auf dreieinhalb Seiten, auf denen sie über die aktuelle Situation in Syrien, die französischen Luftangriffe vom vergangenen Sonntag und die militärische und diplomatische Offensive Putins berichtet und diese analysiert, die EU kein einziges Mal zu erwähnen. Das Adjektiv „européen“ kommt genau zweimal vor, um die Herkunft von Diplomaten zu kennzeichnen, deren Einschätzungen von Le Figaro wiedergegeben werden, deren Urheber aber nicht namentlich genannt werden wollen. Mehr Abwesenheit beim katastrophalsten Konflikt, den die Welt zurzeit kennt, und dessen Folgen Europa millionenfach betreffen, geht nicht.

Es scheint, als habe sich die EU selbst dazu verdammt, in diesem Mega-Konflikt ihre Rolle auf die eines Sozialarbeiters zu reduzieren. Und das auch nur, weil sie die Menschen, die aus diesem Krieg fliehen, ja schlecht vor ihren Toren verhungern lassen kann. Die Flüchtlinge sind es auch, die wichtige nationale Politiker in Europa reihenweise zu Äußerungen treiben, dass man mit den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad, der wie kein zweiter in diesem Jahrhundert sein eigenes Volk abschlachtet, durchaus reden müsse.

Wie konnte es dazu kommen? Neben den Flüchtlingen ist der russische Präsident Wladimir Putin der zweite Grund. Russland hat in den letzten Wochen seine militärische Präsenz in Syrien massiv verstärkt, am Mittwoch bombadierten russische Kampfflugzeuge die Umgebung der Stadt Holms. Putin lässt gerne durchblicken, dass Russland selbstverständlich bereit sei, eine Anfrage der syrischen Regierung zu einem Einsatz von Bodentruppen zu prüfen. Wenn Putin sagt, dass es dazu bisher nicht gekommen sei, so ist nach aller Erfahrung mit der russischen Politik seit der Annexion der Krim und dem Einfall seiner Truppen in die Ukraine die Wahrscheinlichkeit höher, dass russische Soldaten schon jetzt in Syrien kämpfen, als dass sie es noch nicht tun. Wes Geistes Kind er ist, hat er in einem Interview mit dem amerikanischen TV-Sender CBS einmal mehr gezeigt. Auf die Äußerung des Interviewers, Russland habe russische Truppen in der Ukraine, antwortet er: „Na und? Ihr Militär ist in Europa präsent. Sie haben Atomwaffen in Europa. Heißt dies, dass die USA Deutschland besetzt haben?“

Europa blickt im syrischen Bürgerkrieg momentan auf Putin, als sei er ein Messias, der den Flüchtlingsstrom über Nacht zum Versiegen bringen könne. Abgesehen davon, dass er das nicht kann, vergisst es dabei, dass Putin nach Assad der Hauptschuldige für diesen Flüchtlingsstrom ist. Erstens, weil er seit dem Ausbruch des Krieges mit dem russischen Veto jede UN-Politik, die wirklich etwas bewegen könnte, verhindert hat. China fährt nur in Russlands Windschatten und würde alleine kein Veto einlegen. Zu groß wäre sein Gesichtsverlust vor der Weltöffentlichkeit, die es gerade mit einer versprochenen Zwei-Milliarden-Dollar-Hilfe für einen Entwicklungsfonds für das neue UN-Nachhaltigkeitsprogramm beeindrucken will. Zweitens haben die berüchtigten Fassbomben, mit denen Assad die Syrer scharenweise aus dem Lande treibt, eine russische Vorgeschichte. Putin hat sie erfolgreich in seinem Tschetschenienkrieg eingesetzt, ohne dass dies im Westen groß thematisiert worden wäre. Sein Vorbild und sein militärischer Rat dürften Assad nützlich gewesen sein. Drittens wäre Assad gar nicht mehr an der Macht, wenn ihn Russland nicht all die Jahre so massiv unterstützt hätte.

Damit kommt ein Punkt zur Sprache, der bislang viel zu kurz kommt: Russland handelt in Syrien nicht aus einer Position der Stärke. Obwohl Russland und der Iran Assad unterstützen, hat dieser ständig an Boden verloren. Anfang September haben islamistische Milizen (nicht der Islamische Staat) Assads Militärflughafen in Idlib eingenommen, der Ort war schon länger erobert. Von Idlib führt eine Straße direkt nach Latakia, ins Kernland der Alawiten, der Hausmacht Assads. Deshalb ist die erste Priorität des russischen Aufmarsches die Sicherung der eigenen Positionen in Syrien. Tartus, die einzige russische Marinebasis im Mittelmeer, und weitere russische Militärinstallationen liegen in diesem Gebiet. Westliche Militärexperten sprechen Russland die Ressourcen zu einem entscheidenden Bodenkrieg in Syrien ab.

Russland führt in Syrien keinen Kampf gegen Terroristen, sondern ist allein an der Durchsetzung seiner Interessen interessiert. Das kann man ihm, abgesehen von seinen Mitteln, auch schlecht zum Vorwurf machen. Im Gegenteil, Europa sollte das ebenfalls tun. Dazu muss es jedoch mit einer Stimme sprechen. Es muss seine militärischen Anstrengungen unter der europäischen Fahne durchführen und es muss endlich, endlich eine Strategie entwickeln. Dann hat seine Stimme auch Gewicht für Lösungen, die in seinem Interesse liegen.

Christoph Nick
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