2015 hat ein neuer Krisenzyklus begonnen und er wird 2016 fortdauern. Der Einzelne schaut ebenso verschreckt in die Zukunft wie ganze Länder und Regierungen. Europa hat es besonders schwer erwischt. Für manche steht sogar die Existenz der EU auf dem Spiel. Martin Schulz, Präsident des Europäischen Parlaments, sagt es und Frans Timmermans, erster Vizepräsident der europäischen Kommission, sagt es auch. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker sieht wenig Anlass zum Optimismus und gibt sich sicher, dass die Krisen weitergehen.
2014, vor der russischen Besetzung der Krim und dem inszenierten Bürgerkrieg in der Ostukraine, glaubten sich viele Bürger der EU noch auf einer Insel der Seligen. Jahrzehntelanger Frieden, Freiheit und Wohlstand in den westlichen EU-Ländern, ein Aufbau Osteuropas, der stetig voranschritt. Die Eurokrise wollte man unbedingt meistern. 2015 genügte die unkontrollierte Zuwanderung von bis zu zwei Millionen Menschen, um die Union in ihren Grundfesten zu erschüttern. Heute weiß niemand, ob es morgen noch eine Reisefreiheit à la Schengen geben wird. Jeden Tag gibt es neue Hiobsbotschaften. Weil Schweden, das pro Kopf die meisten Flüchtlinge aufgenommen hat, sich abschottet, schließt auch Dänemark seine Grenzen. Die schnelle Öresundbrücke von Dänemark nach Schweden ist statt eines Mittels zur wirtschaftlichen Integration plötzlich ein Hindernis bei der Kontrolle der Flüchtlinge. Weil die acht Minuten Zugfahrt über die Brücke für eine neuerdings vorgeschriebene Personenkontrolle nicht ausreicht, hat eine schwedische Bahngesellschaft den Zugverkehr lieber gleich ganz eingestellt. Zwischen einigen Mitgliedstaaten der EU werden Zäune errichtet. Viele EU-Staaten sind von islamistischem Terror bedroht. Mit weiteren Anschlägen nach dem Muster von Paris wird gerechnet.
2016 hat die EU in Russland einen unberechenbaren, aggressiven Nachbarn, der den Krieg in der Ukraine auf einen on/off-Modus eingestellt hat. Wann immer es Russland passt, kann es den Krieg in der Ostukraine wieder aufflammen lassen. Dadurch kann die Ukraine, deren Bevölkerung in die EU drängt, nicht zu sich selbst finden und ungestört eine Zukunft aufbauen. Sie bleibt ein Unruheherd. Der syrische Bürgerkrieg treibt weiter Flüchtlinge nach Europa. Die russischen Luftangriffe sollen diesen Strom nochmals verstärkt haben. Mit dem Abbruch der diplomatischen und der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Iran und Saudi-Arabien nach der Hinrichtung des schiitischen Geistlichen Nimr al-Nimr durch Saudi-Arabien stehen beide Länder nur noch einen Fußbreit vor einer direkten kriegerischen Auseinandersetzung. Die Aussicht, den syrischen Bürgerkrieg bald zu beenden, ist damit gen null gesunken. Die arabisch-islamische Selbstzerstörung geht in die nächste Runde.
Die Türkei, EU-Beitrittskandidat und Durchgangsland für viele Flüchtlinge, befindet sich erneut im Bürgerkrieg und hat einen Präsidenten, der für die Durchsetzung seiner persönlichen Machtansprüche buchstäblich über Leichen geht. Neu ist auch, dass die EU mit ihren außenpolitischen Problemen mehr oder weniger alleine fertig werden muss. Die USA sind nicht mehr die große Übermacht, die alles regelt. Seit 2015 leben wir endgültig in einer multipolaren Welt. Foreign Affairs, die führende außenpolitische Zeitschrift der USA, schmückte ihre November/Dezember-Ausgabe 2015 mit dem Titel „The Post-American Middle East“.
Im Inneren bietet die EU in der Flüchtlingsfrage ein Bild des Jammers. Die luxemburgische Ratspräsidentschaft hat ihr Bestes gegeben, konnte aber gegen die Übermacht der Unsolidarischen wenig erreichen. Luxemburg wurde für seine Moderation der politischen Prozesse ausdrücklich gelobt, Jean Asselborn hat die europäischen Werte offensiv verteidigt. Seit dem 1. Januar haben die Niederlande den Ratsvorsitz übernommen. Sie wollen der EU neue Kraft einhauchen. Das wird schwierig werden. Schon nächste Woche will die Kommission über die undemokratischen Maßnahmen beraten, mit denen sich die neue polnische Regierung das Land untertan machen will. Hier droht ein Konflikt, der an die Substanz der Union gehen kann. Wahrscheinlich wird die Bevölkerung Großbritanniens in diesem Jahr über ihre Mitgliedschaft in der EU entscheiden. Politische Beobachter sprechen nicht mehr nur von einem drohenden „Brexit“, sondern, wegen der ungeschickten Vorgehensweise von Ministerpräsident David Cameron, vom „Braccident“. Das wäre ein Austritt des Vereinigten Königsreichs aus der EU quasi aus Versehen. Im Europäischen Rat wird Deutschlands führende Rolle, die es seit Beginn der Eurokrise eingenommen hat, offen in Frage gestellt.
Die geopolitische Situation der EU hat sich seit 2014 völlig verändert. Dies hat noch stärker als die Eurokrise Schwachstellen der Integration freigelegt, die die Politik nicht mehr ignorieren kann. Mittlerweile ist ein Viertel bis ein Drittel aller Europäer explizit und offen gegen die Europäische Union. Souveränität, im heutigen Europa ein Ding der Unmöglichkeit, ist das neue Modewort vieler Regierungen. Im Moment sieht alles danach aus, als könne die Lage für die EU sowohl außen- als auch innenpolitisch nur schlimmer werden. Es wird für Europa immer dringender, die Chancen in der Krise zu suchen.