Zum Jahresanfang meldet sich Ex-Finanzminister Luc Frieden (CSV) aus seinem Exil in London zurück, wo er für die Deutsche Bank arbeitet. Er hat ein Buch geschrieben, zusammen mit zwei Ex-Kollegen, Stephan Leithner, dem früheren Deutsche Bank Vorstandsmitglied, und Nicolaus Heinen, dem ehemaligen Europavolkswirt des gleichen Kreditinstituts.
Europa 5.0 lautet der vielversprechende Titel. Nach der Montanunion, der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, den Maastrichter Verträgen und der EU-Osterweiterung soll den Autoren zufolge nun die fünfte Etappe der europäischen Integration erfolgen, für die sie ihre Rezepte vorschlagen. Angesichts der großen Migrationsbewegung Richtung Europa, der Wiedereinführung von Grenzkontrollen, Terror und dem steigenden Zulauf extrem rechter Parteien, Herausforderungen, auf die die EU keine passenden Antworten findet, bräuchte Europa tatsächlich dringend ein neues Gesellschaftsmodell, damit die Bürger merken, dass die EU ihnen statt Austeritätspolitik vielleicht ein wenig sozialen Fortschritt zu bieten hat.
Die drei Autoren schlagen hingegen statt eines Gesellschafts- „ein Geschäftsmodell für unseren Kontinent“ vor, wie es im Untertitel heißt. Das ist nicht etwa ein Lapsus, sondern: „Den Begriff Geschäftsmodell wählen wir bewusst, denn unsere Vorschläge richten sich klar daran aus, jene Ziele wiederzubeleben, die neben Frieden und Freiheit zum Selbstverständnis europäischer Integration zählen: Nachhaltiges Wachstum und breiter Wohlstand“, heißt es in der Einleitung.
Nachdem Frieden und Wohlstand erwähnt sind, kommen die Autoren aber relativ schnell zur Sache: „Die Krise hat dazu geführt, dass viele Bürger weniger die Vorteile markt- und wettbewerbs-orientierter Systeme wahrnehmen, sondern ihre Unzulänglichkeiten als unkorrigierbaren Bestandteil einer marktwirtschaftlichen Ordnung auffassen.“ Wenn die Bürger aber den Glauben an die Marktwirtschaft verlieren – von der „sozialen“ Marktwirtschaftsordnung ist im Buch keine Rede –, wird es Bankiers verständlicherweise ein wenig mulmig: „Das wachsende Misstrauen der Gesellschaft gegenüber Marktprozessen birgt die Gefahr, dass sie aus freien Stücken planerische Elemente in ihren Wirtschaftsordnungen verankert sehen möchte.“
Da „die Gewinner der aktuellen Lage viel zu oft populistische Parteien und Bewegungen“ sind, können die Autoren nur aufatmen. „Immerhin: Auch wenn das seit Januar 2015 regierende Bündnis links- und rechtspopulistischer Kräfte in Griechenland bei den Neuwahlen Ende September bestätigt wurde, dürften Regierungsmehrheiten populistischer Parteien in anderen Ländern Europas vorerst Ausnahmeerscheinungen bleiben.“ Da die Bankiers weniger an persönlichen als an wirtschaftlichen Freiheiten interessiert sind, gelten ihnen vor allem linke Parteien als populistisch – die Entwicklung in Ungarn, in Polen, die immer breitere Unterstützung des Front National in Frankreich, Pegida oder die Alternative für Deutschland finden sie nicht erwähnenswert. Als einzige populistische Kraft außer der in Griechenland regierenden Syriza nennen sie die rechtspopulistische UKIP – wahrscheinlich weil Luc Frieden deren Entwicklung an seinem neuen Arbeitsplatz in London aus der Nähe verfolgen kann.
Die Schuldigen für diesen Missstand haben die Autoren ausgemacht. Das sind neben den glaubensschwachen Bürgern selbst, einerseits die Politiker, denn von „echter politischer Führungsstärke, die zumindest eine klare Richtung vorgeben würde“, sei heute „nichts mehr zu spüren“. Europas Ansehen würden die Politiker darüber hinaus schaden, indem sie so tun, als ob Sparprogramme und Strukturreformen keine nationale Verantwortung, sondern ein Diktat aus Brüssel seien. Andererseits sind auch die Medien und andere „lautstarke Kritiker“ Schuld, die beispielsweise das Freihandelsabkommen TTIP mit den USA auf „Reizbilder wie das medial omnipräsente Chlorhühnchen“ reduzierten und mit den Ängsten vor wachsender Arbeitslosigkeit spielten – „anstatt auf die Chancen hinzuweisen, die dieses Abkommen bietet“.
Man fühlt sich an frühere Haushaltsreden Luc Friedens erinnert, wenn im Buch gefordert wird, dass „Politiker, Unternehmen und Bürger mutige Entscheidungen treffen“, damit Europa wieder vorankommt. Da es aber für Vertragsänderungen in absehbarer Zeit keine Mehrheit gebe, und sei es nur, um den unvollständigen Rahmen der Währungsunion zu reparieren, peilen der ehemalige Finanzminister und seine Ko-Autoren solche gar nicht erst an. Vielmehr sollen die bestehenden Regeln besser genutzt werden, um „Europa aus der müden Ecke der Resignation“ zu holen. Trotz der bescheidenen Zielsetzung beanspruchen sie, mehr Weitblick als andere zu haben, indem sie nicht nur an die Probleme von heute, sondern auch an die von morgen und übermorgen denken.
Übermorgen werde Europa mit drei heute gemachten Altlasten zu kämpfen haben, sagen sie voraus: Dem Niedrigwachstum durch Reform- und Investitionsstau, den nicht ausgeschöpften Potenzialen des EU-Binnenmarktes sowie den niedrigen Zinsen, die den privaten Vermögensaufbau hemmen. Mut zu Strukturreformen sei deshalb notwendig, um einen Rahmen zu schaffen, damit wieder in Europa investiert werde.
Investieren soll die Privatwirtschaft, nicht der Staat. Der soll weiter sparen und keine Schulden machen. Denn: „So zeigt doch die Erfahrung in Griechenland als Paradebeispiel, dass die öffentliche Überschuldung der sicherste Weg ist, die Unabhängigkeit zu verlieren.“ Damit die Unternehmen wieder investieren, soll das Arbeitsrecht flexibilisiert werden – so erhielten auch Arbeitslose einen besseren Zugang zur Beschäftigung. Als Beispiel gilt ihnen das dänische Flexicurity-Modell, das wenig Kündigungsschutz, dafür aber hohes Arbeitslosengeld bietet. Obwohl – ihnen gefällt das hohe Arbeitslosengeld nicht unbedingt. „Grundsätzlich gilt: Anstatt die Symptome der Langzeitarbeitslosigkeit, für die Geringqualifizierte besonders anfällig sind, mithilfe höherer Transferleistungen zu überdecken, sollten Mittel vordringlich in Qualifizierungs- und Weiterbildungsmaßnahmen fließen.“ Dass das vorbildliche Deutschland kürzlich den Mindestlohn eingeführt hat, bedauern die Autoren ausdrücklich. Selbstredend sollen Investitionen steuerlich begünstigt werden. Eine gemeinsame Exportstrategie mit Fokus auf Freihandelsabkommen wie TTIP ist ihrer Ansicht nach unabdingbar.
Obwohl Frieden, Heinen und Leithner hie und da auf die Wichtigkeit besserer Bildung und Ausbildungsmöglichkeiten verweisen, die Chancen, die die Mobilität auf dem Binnenmarkt Arbeitslosen bietet – im Endeffekt schlagen sie vor, das Modell Deutschland in der gesamten Eurozone beziehungsweise der EU zu kopieren. Das heißt, den Export durch eine innere Abwertung zu fördern. Damit „fleißig exportiert“ werden kann, soll auch die EZB, die eigentlich kein Wechselkursziel verfolgt, verstärkt auf „die Rolle des Euro als internationale Leitwährung“ achten.
Als zweites Gegenmittel gegen die „Altlasten von morgen“ fordern die Bankiers die europäischen Unternehmen auf, die Möglichkeiten des EU-Binnenmarktes besser zu nutzen. Zu oft, meinen sie, hinken diese US-Firmen oder solchen aus Asien hinterher, die schneller und geschickter zu globalen Schwergewichten werden, weil sich die Europäer zu sehr auf ihren jeweiligen nationalen Markt konzentrieren. Das zeigt sich ihrer Ansicht nach auch in den Statistiken der Firmenübernahmen. Die Hälfte aller europäischen Betriebsübernahmen im ersten Halbjahr 2015 ging auf das Konto ausländischer Konzerne. Den Europäern, urteilen die Autoren, fehlt die Verve zu Übernahmen. Dabei könnten sie, würden sie sich mehr Übernahmetransaktionen zutrauen, doch auf die Expertise von global agierenden Finanzinstituten zurückgreifen, die ihnen mit Finanzierungen und darüber hinaus mit Rat, Tat und Kontakten zur Seite stehen könnten.
Die dritte Altlast von morgen: die Überalterung der europäischen Bevölkerung und der dadurch entstehende Druck auf die öffentlichen Rentensysteme. Dagegen wirkt nach Ansicht der Autoren vor allem eines: Der Ausbau der betrieblichen und privaten Rentenzusatzversicherung. Dies sei auch wegen der ungleichen Wohlstandsverteilung in Europa wichtig, unterstreichen Frieden und seine Ko-Autoren. Nur wer eine Immobilie oder Aktien besitzt, kann von ihrer Wertsteigerung profitieren. Denn durch die niedrigen Zinsen gebe es für Kleinsparer auf ihren Sparbüchern keine Rendite mehr, bedauern sie, deshalb müsse ihnen Zugang zu anderen Anlagemöglichkeiten verschafft werden.
Um den Bürgern die Demontage der staatlichen Rentensysteme schmackhaft zu machen, verweisen sie auf das niederländische „Cappuccino-System“, das eine Mischung aus staatlicher Rentenvorsorge, tariflich festgelegter und für die Beschäftigten verbindliche Betriebsvorsorge und einer freiwilligen privaten Zusatzersicherung vorsieht. Die überbetrieblichen niederländischen Pensionsfonds, die nicht profit-orientiert sind, in denen die Sozialpartner vertreten sind und die von der Nationalbank streng überwacht werden, seien als Best practice anzusehen, schwärmen die Autoren. Sie stört es nicht, dass „damit das System auch unter dauerhaft niedrigen Zinsen stabil bleibt, wird die Betriebsrente derzeit von festen Leistungszusagen auf feste Beitragszahlungen mit renditeabhängigen Rentenzahlungen umgestellt“. Was die niederländischen Rentner von der Abschaffung fester Leistungen halten, bleibt unerwähnt. Für einen transnationalen Standard für Pensionsfonds auf einem gesamteuropäischen Rentenmarkt, finden sie, „müssen die Anlageregeln für Banken und Fondsgesellschaften aber entsprechend flexibel gestaltet sein. Rentenpläne sollten zudem beitragsorientiert ausgestaltet sein, das heißt keine Garantiepflicht enthalten“.
So empfehlen Luc Frieden, Nicolaus Heinen und Stephan Leitner als Gegenmittel zu der von ihnen festgestellten Müdigkeit der europäischen Bürger mit der Marktwirtschaft mehr freie Marktwirtschaft. Ihre Analyse der europäischen Schuldenkrise bleibt im Rahmen deutschen Stabilitätsdenkens gefangen. Und ihr sprachlich mitunter sehr steifes, 264 Seiten umfassendes Buch enthält kaum bis gar keine neuen Ideen für die Zukunftsgestaltung.
Deshalb stellt sich die Frage, weshalb sie es überhaupt geschrieben haben. Sie wollen einen „Diskussionsbeitrag“ leisten, heißt es im Buch selbst. Dort steht aber auch Folgendes: „Dieses Buch ist in Kooperation in großen Teilen während unserer gemeinsamen Zeit in der Deutsche Bank AG enstanden. Die Strukturen und der Rahmen der Deutschen Bank haben dabei geholfen, ein Thema von dieser Breite erfolgreich zu bewältigen. Dies verdeutlicht auch, wie wichtig eine führende Institution wie die Deutsche Bank für Deutschland und Europa ist.“ Angesichts der multiplen Skandale, in die die Bank verwickelt ist – Zinsmanipulationen, vermeintliche Geldwäsche und Verstöße gegen das Russland-Embargo sind nur zwei von vielen Beispielen – eine Aussage, die von einer gewissen Realitätsferne zeugt. Zumal selbst gegen Mit-Autor Stephan Leitner wegen seiner Rolle in dem Niedergang der Kirch-Medien-Gruppe ermittelt wurde.
Der im Buch immer wiederkehrende Hinweis, dass die niedrigen Zinsen der Europäischen Zentralbank es Banken, Versicherungsgesellschaften und Investmentsfonds quasi unmöglich machen, Geld zu verdienen, sowie die explizite Forderung nach einer Exit-Strategie der EZB aus ihrem Quantative-Easing-Programm, der Hinweis, dass Banken an Firmenfusionen doch gerne mitverdienen möchten, verstärken nur den Eindruck, dass es den Autoren eher um die Rendite und das Geschäftsmodell ihres deutschen Arbeitgebers geht, als um den breiten Wohlstand in Europa. Ihr Buch ist mehr Bankenverband-Forderungskatalog als Zukunftsbeitrag. Zumal darin die Flüchtlingskrise gar nicht statt findet. Noch nicht einmal im Zusammenhang mit ihren möglichen Folgen auf die öffentlichen Haushalte, die Arbeitsmärkte oder die demografische Entwicklung, findet sie Erwähnung – was kein Beleg für besonderen Weitblick ist.
In Europa 5.0 ist nicht erkenntlich, welcher der drei Autoren welche Kapitel geschrieben hat. Dennoch schlägt an manchen Stellen die alte Rivalität zwischen Luc Frieden und seinem ehemaligen Staatsminister Jean-Claude Juncker (CSV) deutlich durch, obwohl Letzterer nicht en einziges Mal namentlich erwähnt wird. Zum Beispiel dann, wenn die mangelnde politische Führungskraft in Brüssel bedauert wird, wo doch Jean-Claude Juncker ganz bewusst eine politische EU-Kommission leiten wollte. Oder wenn die Reformträgheit in Deutschland und den anderen starken, zentralen Euro-Ländern angeklagt wird. Denn war es nicht Jean-Claude Juncker, der den Finanzminister Luc Frieden immer wieder am Sparen hinderte? Er war es auf jeden Fall, der gefordert hatte, einen Mindestlohn in der ganzen Europäischen Union einzuführen.
Junckers alternativen Lösungsvorschläge während der Schuldenkrise, die Eurobonds, bleiben unerwähnt. Und obwohl das Buch sich in weiten Teilen mit dem Investitionsstau in Europa beschäftigt, behandelt es den nach Juncker benannten 315 Milliarden Euro schweren Investitionsplan in einem Abschnitt unter seinem formalen Titel EFSI (Europäischer Fonds für strategische Investitionen). „Der Ansatz ist durchaus sinnvoll“, wird der Juncker-Plan darin verniedlicht. „Um Privatanleger für Investitionen zu gewinnen, dürfte es jedoch langfristig erfolgversprechender sein, die Anlageverordnung für Pensionsfonds und Versicherer zu flexibilisieren und entsprechende Angebote für Anlagestrategien zu verbessern.“