Nachdem das Psychotherapeutengesetz in Kraft ist, soll nun eine Kassen-Psychotherapie definiert werden. Sie könnte der Anfang vom Einstieg in Privatbehandlungen auch durch den Arzt sein

Glück gegen Preisfreiheit

d'Lëtzebuerger Land vom 29.01.2016

Seit einem halben Jahr zählt Luxemburg zu den Ländern Europas, in denen die Psychotherapie gesetzlich geregelt ist. Das Gesetz vom 14. Juli 2015 legt fest, wer den nun geschützten Titel „Psychotherapeut“ führen darf und was mit „Psychotherapie“ gemeint ist. Im Gesetz steht auch, was eine psychotherapeutische Ausbildung unbedingt beinhalten muss. Immerhin, schrieb die damalige CSV-LSAP-Regierung in der Begründung des am 6. Juni 2013 von ihrem Gesundheitsminister Mars Di Bartolomeo (LSAP) in der Abgeordnetenkammer eingereichten Gesetzentwurfs, erlaube das Fehlen „jeglicher Reglementierung“ es „diversen Akteuren“, die „wenig oder nicht qualifiziert“ sind, „so genannte Psychotherapie-Leistungen anzubieten“, die „ihre Klienten großen Gefahren“ aussetzen. Damit sollte demnächst Schluss sein.

Heute gilt: Psychotherapeut kann nur sein, wer im Grundberuf Psychologe oder Arzt ist und eine therapeutische Zusatzausbildung absolviert hat, die an einer Universität erworben wurde. Damit nicht in die Illegalität fällt, wer schon psychotherapeutisch tätig ist, wurde eine dreijährige Übergangsphase festgelegt. Aber mögen all die neuen Regeln schon seit Monaten in Kraft sein – eine spannende Frage ist noch nicht beantwortet: Ab wann gibt es Psychotherapie von der Kasse, wie viel und nicht zuletzt, welche? Ein kurzer Artikel im Psychotherapeuten-Gesetz änderte auch das Krankenkassengesetz. Im Grunde müsste schon seit einem halben Jahr die Krankenversicherung auch die Kosten für Psychotherapien übernehmen. Zumindest, so das Gesetz, wenn sie der Behandlung „mentaler Störungen“ (troubles mentaux) dienen.

Doch das Luxemburger Gesundheitssystem ist eigenartig. Selbst wenn ein Gesetz vorschreibt, die Krankenversicherung habe für etwas aufzukommen, muss sie das nicht unbedingt. Zum Beispiel ergänzte die Gesundheitsreform von 2010 das Krankenkassengesetz um das schöne Versprechen, nun würden auch die Kosten für Zahn-Implantate übernommen. Das ist bis heute nicht der Fall, weil Gesundheitskasse CNS und Ärzte- und Zahnärzteverband AMMD noch nicht einmal begonnen haben, über einen Implantate-Tarif zu verhandeln. Ohne Tarif aber fließt kein Geld von der Kasse.

Weil der „Psychotherapeut“ ein ganz neuer Beruf ist, müsste für ihn nicht nur ein Tarif ausgehandelt werden, sondern viele. Doch ehe darüber gesprochen werden könnte, müsste eine „national repräsentative“ Interessenvertretung aller Psychotherapeuten sich mit der CNS zunächst über eine Konvention einig geworden sein. Durch sie würde anschließend jeder Psychotherapeut automatisch und obligatorisch Kassen-Psychotherapeut. Genauso wie in Luxemburg jeder Arzt automatisch Kassen-Arzt wird, jeder Kinesitherapeut automatisch Kassen-Kiné, und so fort. Solche Verhandlungen können lange dauern. CNS-Präsident Paul Schmit meinte vor zwei Wochen im RTL Radio Lëtzebuerg, die Fragen um die Psychotherapie „könnten in frühestens einem Jahr beantwortet sein“. Das war eine elegante Formulierung, in der „frühestens“ besondere Beachtung verdient.

Das hat jedoch nicht nur mit den langwierigen Prozeduren zu tun. Schmit zündete gleich noch eine kleine Bombe, als er erklärte, Psychotherapie von der Kasse werde es „nur auf ärztliche Verschreibung“ geben. Beim Psychologenverband SLP hat das Entsetzen ausgelöst: Seit Jahrzehnten kämpfen die Psychologen darum, zu einem Gesundheitsberuf auf Augenhöhe mit den Ärzten geadelt zu werden, vor allem auf Augenhöhe mit den Psychiatern. Sie hatten geglaubt, das Psychotherapeutengesetz sorge dafür.

So sicher aber ist das nicht. In dem Gesetz steht lediglich, der Psychotherapeut sei „autonom“. Was damit gemeint sein soll, ist nur im Abschlussbericht des parlamentarischen Gesundheitsausschusses nachzulesen: Psychotherapeuten könnten „selbst über die dem Patienten zu verabreichenden psychotherapeutischen Behandlungen entscheiden, ohne einer ärztlichen Verschreibung folgen zu müssen“. Es wurde „unterstrichen“, der Patient habe „die freie Wahl des Psychotherapeuten, ohne eine ärztliche Verschreibung beizubringen“. Doch: Eine „Kostenrückerstattung durch die Krankenversicherung“ gebe es nur „unter den Bedingungen und in den Grenzen, die im Rahmen der Konventionierung mit der CNS zu verhandeln sind“. In anderen Worten: Die Kasse kann, wenn es um ihr Geld geht, verlangen, was sie will.

Und es ist ein offenes Geheimnis, dass die CNS alles andere als erpicht darauf ist, auch für Psychotherapie zu zahlen. Sie fürchtet, das würde zu einem Fass ohne Boden – ähnlich wie die Kinesitherapie, für die die Ausgaben in den fünf Jahren zwischen 2010 und 2014 um 33 Prozent auf 57,6 Millionen Euro gestiegen sind. Deshalb sind im CNS-Vorstand nur die Gewerkschaftsvertreter einigermaßen Pro-Psychotherapie eingestellt. Sie hoffen, dadurch könnten arbeitsbedingter Stress und Burn-out besser behandelt werden. Für die Unternehmervertreter ist die Psychotherapie dagegen nur ein weiterer Kostenpunkt. Da dürfte es am Ende auch nur anekdotische Bedeutung haben, dass manche Abgeordnete im Gesundheitsausschuss fanden, ein Psychotherapeut könne vielleicht auch Krankenscheine ausstellen – falls die CNS sich darauf einlässt.

All das ist alles andere als erfreulich. Die Aussicht „Psychotherapie nur auf Rezept“ befeuert nicht nur korporatistische Reflexe bei Ärzten und Psychologen neu. Man kann man sich auch fragen, ob eine ärztliche Verschreibung machbar und sinnvoll wäre. Sollte ein Psychiater sie vornehmen, wäre für die Psychologen eine rote Linie überschritten. Zum Glück verlangt die Psychiatrische Gesellschaft heute nicht mehr, wie noch vor anderthalb Jahren, dass der Besuch beim Psychotherapeuten, wenn die CNS ihn bezahlen soll, von einem Psychiater verschrieben werden müsse. Nun sagt sie, das könne „jeder Arzt“. Das aber ist eher eine solidarische Geste gegenüber Medizinern anderer Spezialisierungen als es der Realität gerecht würde: An einem Patienten eine „mentale Störung“ zu diagnostizieren, ab der überhaupt Psychotherapie für die CNS relevant würde, ist absolut nicht jeder Arzt imstande. Selbst ein erfahrener Psychotherapeut schafft das nicht immer schon in der ersten Sitzung. Der Königsweg ist die „vom Arzt“ verschriebene Psychotherapie bestimmt nicht.

Andererseits hat der CNS-Präsident Recht: Irgendeinen Filter wird es geben müssen. In Deutschland etwa zahlen die Krankenkassen für Psychotherapie erst, wenn der Therapeut durch einen umfangreichen Bericht die Schwere des jeweiligen Falls dargelegt hat und ein Kontrollgremium der Kassen die Einschätzung teilt. Im Laufe der Behandlung müssen weitere Berichte geschrieben und ausgewertet werden. So etwas auch in Luxemburg einzuführen, hält zumindest die CNS wegen des Verwaltungsaufwands für utopisch.

Doch die Patienten, das sagen auch psychologische Psychotherapeuten, sind nicht dumm: Wer eine Depression vorgaukeln wolle, schaffe das auch; die Symptome seien im Internet schließlich ausführlich beschrieben. Und Therapeuten, die Personal aus den EU-Institutionen betreuen, deren Krankenversicherung für Psychotherapie zahlt, sofern eine „mentale Störung“ vorliegt, können ein Lied davon singen, wie oft sie bedrängt werden, eine solche „Störung“ zu zertifizieren, obwohl davon keine Rede sein kann. Aus der Luft gegriffen ist die Furcht der CNS vor Riesenausgaben keineswegs.

Ob jemand eine gewitzte Lösung für einen Ausweg auf den Tisch legen wird, bleibt abzuwarten. Abzuwarten bleibt auch, ob es überhaupt zu Verhandlungen über die Kassen-Psychotherapie kommen wird: Noch besteht die national repräsentative Interessenvertretung aller Psychotherapeuten nicht. Der Psychologenverband ist zwar dabei, mit Therapeuten-Fachverbänden eine Allianz zu schmieden, aus der die Interessenvertretung hervorgehen soll. Aber: Sie wird, das sagt der Psychologenverband selber, nur Therapeuten mit Grundberuf Psychologe repräsentieren können. Nicht aber die mit Grundberuf Arzt, die das Psychotherapeutengesetz ebenfalls definiert und die nicht mit Psychiatern zu verwechseln sind.

Das ist nicht nur ein Detail am Rande, sondern könnte sich zu einem echten Problem auswachsen. Ist die CNS streng, was nicht ausgeschlossen werden kann, da es um viel Geld geht, könnte sie eine Organisation, die nicht auch für Arzt-Psychotherapeuten spricht, als nicht repräsentativ ablehnen und dann fielen die Verhandlungen flach.

Es stellt sich aber noch ein anderes Problem, das während der Diskussion des Psychotherapeutengesetzes nie erörtert wurde, aber politisch brisant ist: Gäbe es eines Tages eine Kassen-Psychotherapie und eine Gebührenordnung für Psychotherapeuten, dann gälte das nur für Patienten mit „mentalen Störungen“ – wie es im Krankenkassengesetz steht. Letzten Endes könnten das vor allem Patienten mit einer Verschreibung auf Psychotherapie sein, aber das ist gar nicht so entscheidend. Wichtiger ist, dass Patienten mit weniger schweren Problemen die Kosten für eine Psychotherapie völlig frei in Rechnung gestellt werden dürften. Denn nichts wird einen Kassen-Psychotherapeuten daran hindern können, Patienten mit weniger schwer wiegenden Beschwerden zu therapieren.

Allerdings werden in Luxemburg Gesundheitsdienstleister mit der CNS per Konvention verbunden, damit sich ihr Angebot und ihre Preise kontrollieren lassen. Dagegen brächte die Kassen-Psychotherapie, wie sie gedacht ist, für eine an die CNS gebundene Berufsgruppe ein noch nie dagewesenes Maß an Preisfreiheit mit sich. Deshalb könnte sie – andererseits – der Anfang vom Ende der allgemeinen Kassenversorgung sein.

Und der Anfang vom Einstieg in „Privatbehandlungen“ sogar durch den Arzt. Vom Gesundheitsministerium hieß es vor einem Jahr informell noch, ein praktizierender Arzt, der eine Zusatzqualifikation als Psychotherapeut erwirbt, werde sich entscheiden müssen, welchen der beiden Berufe er ausübt, „beides zusammen geht nicht“. Heute dagegen neigt man im Ministerium dem Vernehmen nach der Ansicht zu, dass das kein Problem sei. Doch sollte sich herumsprechen, dass ein paar Ärzte auch Psychotherapie praktizieren und bei weniger schlimmen Fällen das Honorar frei berechnen, und zwar ganz legal – dann könnte sich die Konventionierungspflicht im Gesundheitswesen vielleicht schon vor den nächsten Wahlen in Luft auflösen und der OGBL gezwungen sein, Stimmung gegen die LSAP zu machen.

Peter Feist
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