Lebenstraum „Ich habe doch gesagt, ich werde es schaffen, auch wenn ich ein Mann bin“, sagt Nicolas Schmit zur Begrüßung. Angestrengtes Lächeln. Kurzer Händedruck. Kein Augenkontakt.
Seit dieser Woche ist klar, dass Nicolas Schmit nächster Luxemburger EU-Kommissar wird. Er hat die designierte Präsidentin Ursula von der Leyen davon überzeugt, Teil ihres Teams zu werden und erhält sogar das bevorzugte Ressort Beschäftigung. An der letzten Etappe, der Befragung im EU-Parlament, wird Schmit nicht mehr scheitern. Damit erfüllt er sich am Ende seiner langen Karriere als Politiker, hoher Beamter und Diplomat einen Lebenstraum. Denn aus seinem Europafetisch hat er nie einen Hehl gemacht, gleich mehrmals hat er den Absprung aus der nationalen Politik gesucht. Und so titelten mehrere Medien diese Woche, Schmit sei endlich am Ziel.
Schmit selbst widerspricht dieser Deutung. Er habe eigentlich nie einen Masterplan gehegt, sich nie Ziele gesteckt. „Die Dinge haben sich ergeben.“ Minister, Mitglied im Staatsrat, Leiter der ständigen Vertretung in Brüssel, Mitverfasser der Maastrichter Verträge, Berater von Jacques Poos, Pierre Werner und Gaston Thorn – tatsächlich lässt sich anhand seines Lebenslaufs nicht nur ein halbes Jahrhundert Luxemburger Geschichte rekonstruieren, er zeugt auch von Spontanität und Sprunghaftigkeit. Es ist ein Hin und Her zwischen Politik und hohem Beamtentum, zwischen öffentlichem Parkett und Hinterzimmer, das zu einer erstaunlichen Akkumulation von Posten geführt hat. Schmit ist jemand, der sich Optionen offenhält – ein Opportunist im besten Sinne, der Gelegenheiten beim Schopfe greift.
Zudem vereint Schmit Widersprüche. Das bezeugen nicht nur enge Vertraute, das gesteht er auch selbst. Bedacht, aber impulsiv. Intelligent, aber mitunter naiv. Rhetorisch begnadet, trotz mangelndem Charisma. Ein Netzwerker, aber ohne Hausmacht in der eigenen Partei. Diplomatisch, aber unfähig Smalltalk zu führen. Distinguiert, aber mit Hang zum Franc-parler.
Am Anfang war der Krieg Nicolas Schmit ist 1953 als einziger Sohn eines Schreinerangestellten in Niederkorn geboren. Er entstammt einfachen Verhältnissen, der „classe ouvrière“ wie er selbst sagt. Sein Großvater starb am 11. Mai 1940 in Differdingen beim Einmarsch der Wehrmacht als eines der ersten Opfer des Zweiten Weltkriegs.
Dabei war für ihn früh klar, dass er nach oben will. Und seine Eltern haben ihn dabei stets unterstützt. Nach seiner Première A im Lyçee de Garçons Esch zieht es ihn an die Universität. Er selbst will am liebsten Politik studieren, die Eltern sind skeptisch. „Sie wollten, dass ich etwas Handfestes wähle.“ Er macht den Eltern den Gefallen, aber rückt nicht von der eigenen Vorstellung ab. Er studiert französische Literatur und Geschichte, um sich die Möglichkeit offen zu halten, Lehrer zu werden und belegt gleichzeitig ein Studium an der Sciences Po in Aix. Ein Doppelstudium, das ihn fordert, aber nicht überfordert.
Das akademische Milieu liegt ihm. Ideenaustausch, debattieren, fachsimpeln – der junge Schmit blüht auf. Er freundet sich mit seinem Professor, dem Diplomaten Stéphane Hessel an, lernt seine erste Frau kennen und schreibt eine Doktorarbeit über die Regulierung von Freihandel in der Europäischen Union. „Alles sah danach aus, dass ich eine akademische Karriere verfolge oder bei einer internationalen Institution anheure“, so Schmit rückblickend.
Ghostwriter Doch es kam anders. Und Schuld daran war Gaston Thorn. „Ich bin mit 25 Jahren Gaston Thorns Ghostwriter geworden“, sagt Schmit, hält für einen Moment inne und nickt dann mit seinem Kopf. Er war zu diesem Zeitpunkt bereits Mitglied in der LSAP und im französischen PS, aber als Politiker bezeichnet er sich rückblickend nicht. Er nahm als reservierter Student an den Sitzungen der Unel (Union Nationale des Étudiants du Luxembourg) teil und beobachtete mit Argwohn die ideologisch geprägten Debatten von Maoisten, Trotzkisten und Stalinisten. „Mein Herz schlägt links“, so Schmit, „aber ich habe nie an den Erfolg einer Revolution geglaubt.“ Vielmehr müsse man die Verhältnisse „von innen“ verbessern. Schmit knüpfte in den wilden Jahren der Unel jedoch Kontakte, die sich zu langjährigen Freundschaften entwickeln: So etwa mit Jean-Claude Reding, dem späteren OGBL-Präsidenten.
Die Zusammenarbeit mit dem liberalen Staatsminister Gaston Thorn ist fruchtbar – Schmit erweist sich als kluger Redenschreiber, dessen Texte selbst in ausländischen Medien wie La Libre Belgique publiziert werden. Und als die CSV Ende der 1970-er-Jahren erneut das Staatsministerium erobert, muss Schmit seinen Platz nicht räumen. Er wird Ghostwriter von Pierre Werner. „Un Grand Monsieur“, so Schmit, den er zeitlebens nie mit Vornamen ansprach. Er habe vor allem Werners Gelassenheit geschätzt: Schmit erinnert sich daran, als Werner eine Rede im Parlament begonnen hatte, während er mit seinen Kollegen im Hinterzimmer noch am Ende des Textes feilte und erst später die definitive Version ans Rednerpult brachte. „Das war für Werner kein Problem.“
Doch Schmit verließ den „Grand Monsieur“. Ihm wurde ein Angebot unterbreitet, das er nicht ablehnen wollte. 1982 kam der Ruf ins Außenministerium von Jacques Poos. Internationale Beziehungen, auswertiges Amt – es war die Welt, nach der Schmit während des Studiums so sehr gestrebt hatte. Den LSAP-Außenminister bezeichnet er dabei als „Mentor“, auch wenn Bekannte und Wegbegleiter sagen, er habe unter Poos sehr gelitten. „Es stimmt, ich war sehr streng“, sagt Poos. Aber er habe auch das „außerordentliche Potenzial“ in Schmit erkannt und ihm dazu geraten, den Weg der diplomatischen Karriere wieder zu verlassen und in die Politik zu gehen. Poos schlägt Schmit vor, sich 1989 für den Posten des LSAP-Fraktionssekretärs zu bewerben. „Das war noch immer ein Sprungbrett in unserer Partei.“
Diplomat Nicht so für Schmit. Nach zwei Jahren reicht es ihm, er zieht sich entnervt ins Außenministerium als Beamter zurück. Es bleibt bei einem vorerst kurzen Gastspiel in der Welt der professionellen Politik. Allerdings warten neue Herausforderungen: Er lässt sich von der LSAP in den Staatsrat wählen und hat die Möglichkeit, für Luxemburg an den Maastrichter Verträgen mitzuarbeiten. Es sei die Phase gewesen, in der er begriffen habe, wie die Europäische Union funktioniert. „Seither habe ich die Union im Blut.“ Zudem ist es auch die Phase, in der er nachhaltige Bekanntschaften mit gleichaltrigen Technokraten macht: Jim Cloos, Gaston Reinig, Jos Weyland, Yves Mersch.
Schmit war über mehrere Jahre zufrieden als hoher Beamter im Außenministerium, bis zum Zeitpunkt, als die Regierung von Jean-Claude Juncker und Jacques Poos einen Nachfolger für Jean-Jacques Kasel an der Spitze der ständigen Vertretung der Europäischen Union (RP) in Brüssel suchte. Und Juncker war der Auffassung: „De Schmit soll daat maachen.“ Schmit ließ sich für den Wechsel begeistern und übernahm ab 1998 die Leitung der RP in Brüssel. Wenige Jahre später war es erneut Jean-Claude Juncker, der mit einem Wunsch an Schmit herantrat. Die Luxemburger Präsidentschaft stand bevor. Er sollte Staatssekretär von Außenminister Jean Asselborn werden. Ein Aufpasser und Ausputzer für Asselborn, der bis dato keine Erfahrungen in der Welt der internationalen Beziehungen aufweisen konnte. Schmit lehnte ab. Als man ihm statt dem Posten des Staatssekretärs das Amt des stellvertretenden Außenministers anbot, sagte er doch zu. Und so zog er mitsamt Familie und seiner Frau aus zweiter Ehe ins Müllerthal.
Politiker Die Zusammenarbeit zwischen Schmit und Asselborn verlief selten harmonisch, aber sie funktionierte. Der Besserwisser Schmit sei es gewohnt gewesen als Beamter sich in Hierarchien zu ordnen, Asselborn jedoch kompensierte mangelnde Fachkenntnisse mit Machtdemonstration, so jemand, der das Verhältnis aus der Nähe beobachten konnte.
Dennoch behaupten viele, dass Schmit es nicht mehr geschafft habe zum Vollblutpolitiker zu werden. Denn als typischer Technokrat handelte er stets lösungsorientiert: Solutions first! Seine Fachkompetenz sei überwältigend, sein Intellekt messerscharf, seine Zunge spitz. Was ihm in seiner Zeit als Politiker aber stets mangelte, war das Empathische, die persönliche Verbindung zu Menschen. Er ließ sich ungern auf Gespräche über das Wetter, Sportresultate oder Kindergeburtstage ein und interessierte sich wenig für die Befindlichkeiten seiner Mitmenschen. Und es kam vor, dass er sich an die Gesichter seiner Mitarbeiter schlichtweg nicht mehr erinnern konnte. Ein Kapitalvergehen für einen Politiker, das ihm den Ruf der Unnahbarkeit, ja der Arroganz einbrachte.
Schmit ärgert sich bis heute über dieses Image. „Ich bin etwas distanziert“, so Schmit. „Aber es stört mich doch sehr, dass die Menschen denken, ich sei arrogant.“ Er könne allerdings niemandem die Schuld dafür geben – nur sich selbst. Es sei ihm als Politiker nicht gelungen, dieses Image zu revidieren. „Nobody‘s perfect“, sagt Jean Asselborn dazu.
Verpasste Chance Schmits größter politischer Erfolg und Fehler liegen zeitlich nah beieinander. Als Luc Frieden in den Tripartitegesprächen von 2010 sein Austeritätsprogramm für Luxemburg vorlegt, platzt ihm der Kragen. „Dat war alles totale Schäiss“, so Schmit. Doch niemand habe widersprochen – selbst Juncker und Asselborn boten Frieden kein Paroli. Im Anschluss an die Sitzung gibt Schmit, der mittlerweile Arbeitsminister ist und die Mission hat, die Adem nach Jahren des CSV-Reformstaus zu reformieren, ein Interview, in dem er von Friedens Plänen radikal abrückt. Beim anschließenden LSAP-Kongress hält er eine leidenschaftliche sozialistische Rede mit Standing Ovations. Der „Held von Moutfort“ war geboren. „Mir war es allerdings nicht gelungen, daraus politisch Kapital zu schlagen“, so Schmit. Das hängt damit zusammen, dass wenig später die unrühmliche Polizeiaffäre begann. Bis heute redet Schmit nicht gerne über die Geschichte. Aber er bezeichnet es als seinen „größten politischen Fehler“, seinen Sohn auf das Polizeiamt begleitet zu haben, nachdem dieser Ärger mit einer Polizeikontrolle hatte. „Ich war komplett naiv.“ In der Folge ging die Rede von Amtsmissbrauch – Schmit erholte sich in den Umfragen nicht mehr von diesem Fehler, ihm gelang es nicht die Affäre hinter sich zu lassen.
„Ich wollte aufhören und suchte nach einem Ausweg.“ Er fand ihn 2011 im Posten des stellvertretenden OECD-Generalsekretärs. Sein erneuter Wechsel in die Welt der internationalen Beziehungen galt bereits als sicher, doch die belgische Regierungskrise machte die Pläne zunichte. „Une tentative ratée“, nennt Schmit es. Später sollten weitere Versuche folgen, die scheiterten: Es gelang ihm nicht, ein Superministerium zu gründen, nachdem Jeannot Krecké sich als Wirtschaftsminister zurückzog. Es gelang ihm nicht, Botschafter in Paris zu werden. Es gelang ihm nicht, 2014 EU-Kommissar zu werden. Es gelang ihm nicht, die Nachfolge von Henri Grethen beim europäischen Rechnungshof anzutreten. Und es gelang ihm auch nicht, europäischer Spitzenkandidat der Sozialdemokraten für die EU-Wahlen 2019 zu werden. Aber: Es ist ihm schließlich gelungen, sich gegen den Kontrahenten Etienne Schneider im Oktober 2018 durchzusetzen und Ursula von der Leyen zu überzeugen, nächster Luxemburger EU-Kommissar zu werden. Wie? Man habe ihn gebeten, neben seinem Lebenslauf noch einen kurzen persönlichen Text an Ursula von der Leyen zu schicken. „Ich habe lediglich hingeschrieben: married, four children“, das sei bei der siebenfachen Mutter äußerst gut angekommen, so Schmit.
Ausgelassenes Lächeln. Langer Händedruck. Augenkontakt.