„Die Staatschuld soll unter 30 Prozent des Bruttoinlandsprodukts bleiben und wir halten uns an den europäischen Stabilitätspakt”, erklärte Premier Xavier Bettel (DP) am gestrigen Donnerstag, als er zusammen mit Corinne Cahen (DP), Etienne Schneider (LSAP) und Félix Braz (Grüne) ausgewählte Süßigkeiten des Koalitionsabkommens für ihre jeweilige Wählerschaft vorstellte.
Gemeint war: Wir belassen es bei einem strukturellen Defizit von einem halben Prozent und machen nicht mehr die halsbrecherische Dummheit von 2013 und schreiben einen mittelfristigen Saldo von +0,5 Prozent ins Regierungsprogramm. Das heißt auch: Der Versuch einer ökonomischen Disziplinierung mit den Folterwerkzeugen des Stabilitätspakts ist, mit Ausnahme vielleicht einer TVA-Erhöhung, misslungen.
Stattdessen verspricht die mehr sozialiberal als neoliberal gewordene Koalition mittelständischer und ökologischer Liberaler mit einer liberalen Sozialdemokratie, ohne viel Aufhebens weiterzumachen wie nach ihrer Kurskorrektur von 2015. Auch eine Verschiebung strategischer Ressorts, wie Premier, Finanzen, Wirtschaft, Sozialversicherung oder Bauten, und damit des politischen Einflusses zwischen den Parteien, ist nicht vorgesehen.
DP-Premier Xavier Bettel verzichtet erneut darauf, neben dem Staatsministerium mit Anhang ein zweites großes Ressort zu übernehmen und so sein politisches Gewicht zu stärken. Auch dem grünen Vizepremier Félix Braz reicht die beschauliche Justiz. Der Superminister von 2013, Vizepremier Etienne Schneider (LSAP), muss sich nun mit der Wirtschaft zufriedengeben un will nicht mehr dem Premier die Schau stehlen. Neuer Superminister würde der Grüne François Bausch, wenn er neben dem millionenschweren Bauten- und Transportministerium den Fehler von Etienne Schneider wiederholt und auch für Armee und Polizei zuständig werden sollte.
Die Verteilung der Ministerressorts dauert bei einer Regierungsbildung stets am längsten. Die derzeit größte Regierung in der Landesgeschichte soll bloß um ein Mandat verringert werden, weil die drei Parteien über mehr Kandidaten als ernsthafte Ressorts verfügen. Dafür sollen sogar alle Regierungsmitglieder den Ministerrang haben. Das führt dann dazu, dass der eine oder andere Minister im Vergleich zu den Kollegen unterbeschäftigt scheint, ein anderer wie ein Staatssekretär mit Ministerwagen aussieht.
Anpassungsfähig wie die um ihre umweltbewusste Wählerschaft besorgten Grünen sind, lebt die Koalition wieder von einem Kompromiss zwischen der unternehmerfreundlichen DP und einer LSAP, die nicht mehr Arbeitspartei heißen will, aber doch noch auf die Stimmen der kleinen Leute angewiesen ist. Deshalb soll die Betriebsbesteuerung sofort um einen Prozentpunkt gesenkt werden, auch wenn LSAP und Grünen das in ihren Wahlprogrammen ablehnten. Vor allem wird die Zahl der Betriebe, die den niedrigeren Körperschaftssteuersatz von 15 Prozent angerecht bekommen, massiv ausgeweitet, weil ihr maximales steuerpflichtiges Einkommen von 25 000 Euro auf 175 000 Euro versiebenfacht wird. Das grenzt an eine weitere Senkung des allgemeinen Körperschaftssteuersatzes durch die Hintertür statt über den Taux d’affichage.
Diese Steuersenkungen sind der Preis dafür, dass der Mindestlohn, wie von der LSAP versprochen, um 100 Euro netto monatlich erhöht wird. Anders als ursprünglich geplant, gehört zu diesen 100 Euro schon die gesetzliche Mindestlohnanpassung um 1,1 Prozent, die am 1. Januar vorgesehen ist. Wie die restlichen 77,44 Euro vor allem aus der Staatskasse zugeschossen werden sollen, wurde gestern nicht im Detail erklärt.
Geplant ist eine große Einkommenssteuerreform, die darauf hinauslaufen soll, alle Steuerklassen abzuschaffen, einschließlich der viel kritisierten Klasse 1A für Witwen, Rentner und Alleinerziehende. Die Familienverhältnisse der individual besteuerten Pflichtigen spielen dann keine Rolle mehr, lediglich ihrie Kinderzahl wird berücksichtigt noch.
„Niemand wird etwas verlieren“, versicherte DP-Präsidentin Corinne Cahen, erklärte aber nicht, was das bei den Hausfrauenehen mit einem einzigen Brotverdiener kosten soll, die bisher am meisten von der gemeinsamen Veranlagung mit Ehegattensplitting profitieren: Finanzminister Pierre Gramegna soll das „in den nächsten Monaten ausarbeiten“. Dafür soll die Mehrwertsteuer auf den superreduzierten Satz von drei Prozent für Reparaturarbeiten, Hygieneartikel und elektronische Bücher gesenkt werden.
Die allseits versprochene Reform der Chèques-service soll darauf hinauslaufen, dass die Maison relais kostenlos werden. Schließlich haben die Schecks ja auch ihren diskriminatorischen Zweck verfehlt, seit Grenzpendler ebenfalls Anspruch darauf haben. Erst nach diesen Reformen, gegen Ende der Legislaturperiode, sollen das Kindergeld und andere Familienzuschüsse dann wieder an die Inflation angepasst werden – was Familienministerin Cahen den Gewerkschaften schon für die vorige Legislaturperiode versprochen hatte. Dafür sollen die Sozialpartner sich darauf einigen dürfen, die Arbeitszeit im Interesse der Familien und Betriebe zu flexibilisieren. Beim Pan-Gesetz war ihnen das nicht voll gelungen.
Etienne Schneider versicherte, dass während der kommenden Legislaturperiode nicht an die Renten gerührt und auch die automatische Indexierung nicht in Frage gestellt werde. Das waren zusammen mit der Mindestlohnerhöhung seine „roten Linien“. Die LSAP hatte in ihrem Wahlprogramm die schrittweise Einführung einer sechsten Urlaubswoche in Aussicht gestellt. Nun soll erst einmal ein zusätzlicher Urlaubstag kommen und der Europatag am 9. Mai ein gesetzlicher Feiertag werden. Ob aus den zwei Tagen bis zum Ende der Legislatur, wie geplant, eine Woche wird, war kein Thema mehr.
Bei der Wohnungsnot, an der während der nächsten fünf Jahre nun die Grünen scheitern dürfen, soll die Grundsteuer reformiert werden, um der „Spekulation Einhalt zu gebieten“, wie Etienne Schneider vage meinte. Die Bau- und Mietzuschüsse sollen zur weiteren Pflege der Grundrente wieder erhöht werden und eine staatliche Grundstücksreserve soll vangelegt werden. Das Wohnungsbauministerium soll eine Beratungszelle einrichten, um die Gemeinden zum Bau von mehr Wohnungen anzuregen.
Die Grünen sollen schließlich den kostenlosen öffentlichen Transport einführen, den sie im Wahlkampf abgelehnt hatten. Was dann dazu führte, dass Félix Braz sich gestern gegen die Vorstellung wehrte, damit solle die Benutzerzahl erhöht und so die Umwelt geschont werden – vielmehr sei es eine soziale Maßnahme. Die Kilometerpauschale solle auch nicht zwecks Gegenfinanzierung gesenkt, sondern nach sozialen und ökologischen Kriterien reformiert werden. Aber die Gilets jaunes in Frankreich zeigen gerade, wozu das führen kann.
Die Grünen dürfen aber stolz darauf sein, dass das Straßenbahnnetz vergrößert wird, Glyphosat ab dem 1. Januar 2021 verboten wird und die Landwirtschaft bis 2025, nach dem Ende der Legislaturperiode, zu 20 Prozent „bio“ sein soll. Über Tanktourismus war dagegen nichts zu erfahren.
Die von der LSAP versprochene Verallgemeinerung des Tiers payant im Gesundheitssektor wurde erfolgreich von der DP verhindert. Dafür sollen die Bestimmungen des sozialen Tiers payant und für sehr hohe Arztrechnungen gelockert werden. Später soll einmal ein elektronisches System eingeführt werden, durch das die Krankenversicherung sofort nach der Bezahlung beim Arzt die Rückerstattung einleitet. Um im Geiste Rifkins überhaupt alle politischen Probleme technisch zu lösen, soll ein digitales Ministeriums geschaffen werden.
Laut Corinne Cahen wird es mit den Bildungsreformen erst einmal gut sein. Wann das geplante Referendum über die Verfassungsrevision stattfinden soll, will man zusammen mit der CSV klären.
Die Ressortverteilung will die Regierung am heutigen Freitag veröffentlichen. Am Montag soll das Koalitionsabkommen unterzeichnet werden, am Dienstag soll es von den drei Parteien gutgeheißen werden und am Mittwoch soll der Großherzog seine neue alte Reghierung vereidigen.