Es gibt eine politische Tugend, die meist Voluntarismus genannt wird. Es ist der Vorgang, erst eine Entscheidung zu treffen und anschließend sie umzusetzen. Das klang lange Zeit als eine so elementare Verbindung von Ursache und Wirkung, dass sie als die einzig vorstellbare galt. Dann wurde sie plötzlich als fahrlässiger Amateurismus dargestellt, bis sie weitgehend in Vergessenheit geriet. Heute ist ihr Gegenteil zur Gewohnheit geworden: Erst einmal das Ob und das Wie der Umsetzung prüfen, von ausländischen Experten untersuchen und mit mathematischen Modellen simulieren lassen und anschließend vielleicht die Entscheidung treffen. Letztere Vorgehensweise gilt als vorsichtig und vernünftig und entspricht somit den Reflexen konservativer Politiker aller Parteien und der Verwaltungen.
Der Voluntarismus genießt heute einen schlechten Ruf. Denn er beansprucht das Primat der Politik über die von der angeblich unpolitischen Technokratie auferlegten Sachzwänge. Er weigert sich in seiner irren Hybris, den Göttern der Märkte, der Technik und der Wissenschaft zu opfern, sich vor ihren Hohepriestern, den Experten, Audits und Gutachten, in den Staub zu werfen. Sicher ist der Voluntarismus, wie alles Menschenwerk einschließlich der von der CSV am Rententisch erfundenen Mammerent, nicht unfehlbar. Aber das ist auch das Expertentum nicht, das sich beispielsweise in der Finanz- und Wirtschaftskrise vor einem Jahrzehnt als nicht weniger ignorant und korrupt entpuppte. Mit den bedeutenden Unterschieden, dass das Expertentum stets im Kleingedruckten jede Verantwortung von sich weist und keine demokratische Rechenschaft pflichtig ist. Bei der Einführung der Pflegeversicherung hatte die zuständige Sozialministerin gemeint, dass man einmal ins kalte Wasser springen musste, denn wenn man versucht hätte, sich zuerst jede Eventualität auszumalen und sich für sie zu rüsten, wäre das Gesetz wohl nie verabschiedet worden.
Der liberalen Koalition war die ursprüngliche Himmelsstürmerei schon vor Jahren abhanden gekommen, nach den Europawahlen und dem Referendum hatte sie 2015 die Leute, das heißt sich selbst, für reformmüde erklärt. Dann wurde sie von ihrer eigenen Wiederwahl überrascht, und niemand hatte ihr noch so viel Mumm zugetraut, wie sie nun mit einigen voluntaristischen Akten bewies. Dazu gehört die Ankündigung, Herstellung und Vertrieb von Cannabis unter staatlicher Aufsicht zuzulassen. Das steht so im Koalitionsabkommen, und nun sollen Gesundheits-, Justiz- und vielleicht Landwirtschaftsministerium zusehen, wie sie das auf die Reihe bekommen.
Zum Schulbeispiel für den politischen Voluntarismus dürfte die Einführung des Gratistransports mit Bus und Bahn werden, mit deren Ankündigung die DP im Juli vergangenen Jahres alle Parteien überrumpelt hatte. Das Prinzip erschien so einfach und einleuchtend, dass andere Parteien sich gezwungen sahen, es gleich in ihre Wahlprogramme zu übernehmen. Nun steht es im Koalitionsabkommen und am 1. März nächsten Jahres soll es Wirklichkeit werden. Doch gerade weil es all jenen Bus- und Bahnkunden so einleuchtend erscheint, die sagen: „Toll, jetzt spare ich das Geld für die Fahrkarten!“, bekämpfen Experten aller Schattierungen diesen Voluntarismus ohne Unterlass, oft um zuerst ihre Technokratie zu verteidigen. Kein Argument ist zu weit hergeholt, kein logischer Schluss zu schief, um nicht nach einem Haar in der Suppe zu fischen und das einleuchtende Prinzip zu zerreden. Weil die gehobenen Klassen sowieso nie Bus und höchstens TGV fahren, werden die Experten nicht müde zu beklagen, wie volkspädagogisch verwerflich es sei, wenn die subalternen Klassen nicht für die Fahrt ins Büro oder die Fabrik bezahlen müssen, wie verkehrspolitisch gefährlich es sei, wenn der öffentliche Transport vollständig statt größtenteils bezuschusst wird. So als wären die Busse heute pünktlicher und die Züge weniger überfüllt, weil ihre Fahrten kostenpflichtig sind.