„Alkohol? Weniger ist besser“ heißt die erste Aktionswoche des Gesundheitsministeriums rund um die Prävention von Alkoholmissbrauch, die am 13. Mai startet. Die Idee: Schulen, Vereine, Jugendgruppen sollen Zeichen gegen übermäßigen Alkoholkonsum setzen. Leider war das Echo bis Redaktionsschluss nicht sehr groß: Nur wenige Interessierte hatten sich angemeldet. Die gemeinsame Aktion, die zeitgleich in Deutschland, Liechtenstein, Luxemburg, Österreich und der Schweiz startet, ist eine der Maßnahmen, die auf dem Treffen der deutschsprachigen Gesundheitsminister im August vergangenen Jahres zurückbehalten wurde.
Dass sie auf wenig Interesse stößt, liegt sicher nicht nur an der Aufmachung. Die Warnung vor zu viel Alkohol am Steuer hat jede/r tausendfach gehört. Das lockt niemand hinterm Sofa hervor. Dabei verdient die Volksdroge Nummer eins dringend mehr kritische Aufmerksamkeit. In Luxemburg sollen rund 30 000 Männer und Frauen eine von Alkohol verursachte gesundheitliche Störung haben, 4 000 bis 5 000 sollen schwer alkoholabhängig sein. Mit durschnittlich 18 Liter pro Kopf im Jahr wird hierzulande europaweit am meisten Alkohol verkauft. Selbst wenn man die Grenzgänger, die aufgrund geringer Steuern hierzulande einkaufen, abzieht, bleibt der Konsum mit 15 Liter hoch. Gleichzeitig ist das Genuss- und Rauschmittel wie kein anderes gesellschaftlich akzeptiert. Es wird im Supermarkt verkauft, in Anzeigen umworben – und von der Politik hofiert. Zwar behaupten Insider, die es wissen müssen, die Alkohollobby sei im Großherzogtum nicht so stark, einen Bier- oder Weinbotschafter wie in Deutschland, wo Politiker quer durch alle Parteien sich rühmen, den Titel zu tragen, gibt es im Weinland Luxemburg so nicht. Gleichwohl kommt kaum ein Zeitungsfoto eines Weinfests ohne Gesichter von Politikern und bekannten Land- und Dorfgrößen aus, die sich zuprosten und beschwingt das Weinglas heben. NGOs, die es besser wissen könnten, machen ihre Mitgliederzeitungen mit Weinfotos auf.
Denn die gesundheitlichen Risiken durch übermäßigem Alkoholkonsum sind enorm – und zwar nicht nur für die Risikogruppen der Jugendlichen und der Schwangeren. Schon in kleineren Mengen kann Alkohol Depressionen auslösen. Alkohol schädigt Herz und Kreislauf und verursacht nachweislich Krebs. Wissenschaftler um den britischen Pharmakologen David Nutt untersuchten 2010 verschiedene Drogen auf ihre Zerstörungskraft für den Einzelnen und die Gesellschaft. Dabei stellten sich Heroin, Crack und Metamphetamine als die tödlichsten heraus. Berücksichtigte man jedoch die sozialen Folgen, lag Alkohol auf Platz eins der gefährlichsten Drogen, vor Heroin und Crack, aufgrund der damit verbundenen (Gewalt-)Kriminalität und erhöhter Todesraten. In der hiesigen Verbrechensstatistik spielt Alkohol als Enthemmer oft eine tragische Rolle. Alkohol ist zudem die zweithäufigste Ursache von tödlichen oder schweren Unfällen. Vor allem bei jungen Menschen zwischen 25 und 34 Jahren ist überhöhter Alkoholgenuss ein echtes Problem. Die Aktionswoche soll auch für eine sichere Fahrt werben – ohne Alkohol.
Doch bunte Flyer und Hauruck-Aktionismus können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Regierung ihre Hausaufgaben in Sachen Alkohol noch schuldig bleibt: Es war unter Gesundheitsminister Mars Di Bartolomeo (LSAP), dass die Vorarbeiten für einen nationalen Aktionsplan Alkohol starteten, nach dem Vorbild des Aktionsplans Psychiatrie oder Suizid. Weil die schwarz-rote Regierung nach der Geheimdienstaffäre Jean-Claude Junckers 2013 vorzeitig abdanken musste, wurde nichts daraus. Fast vier Jahre später gibt es weiterhin keinen Aktionsplan Alkohol, und auch keinen Termin, wann der Plan das Licht der Öffentlichkeit erblicken wird, obwohl eine neue Arbeitsgruppe schon bald die Arbeiten aufnahm.
Was in dem Aktionsplan im Einzelnen steht, bleibt also unklar. Sechs Achsen und 66 Einzelaktionen werde er voraussichtlich beinhalten, verrät Juliana D’Alimonte, verantwortliche Koordinatorin im Gesundheitsministerium auf Land-Nachfrage, darunter die Achsen Gesetzgebung mit konkreten Vorschlägen zur Regulierung von Verkauf und Konsum, Prävention, Behandlung, Weiterbildung und Gouvernance. Ziel ist es – und das erklärt teilweise die zeitliche Verzögerung –, das Maßnahmenpaket von Anfang an mit anderen Aktionen, etwa aus dem Bereich der Psychiatrie, dem Kampf gegen Krebs oder der Suizidprävention, zu verschränken. Auch haben sich die Verantwortlichen vorgenommen, die Ressourcenfrage, also wie viel (geschultes) Personal und welche Finanzmittel einzelne Aktionen benötigen, so weit wie möglich abzuklären. Die Gespräche mit der Krankenkasse CNS, etwa wenn es um die Finanzierung einer besseren Erstversorgung und Nachbetreuung in der Notaufnahme geht, sind noch nicht abgeschlossen. Am Plan waren Vertreter aus dem Gesundheits-, Arbeits-, Erziehungs-, Familien-, Finanz-, Sozial- und Transportministerium beteiligt, aber auch Ärzte, Polizei, NGOs. Trotzdem: Dass es so lange braucht, ist ein Armutszeugnis.
Anders als beim Tabak, wo mit Warnhinweisen und Altersbeschränkung und vor allem erhöhten Preisen der Zugang zur Droge Nikotin spürbar erschwert wurde, sucht man derlei Aktionen beim Alkohol bislang vergeblich. Noch immer verdient der Luxemburger Staat an den Akzisen für Alkohol und Tabak kräftig mit. Außer der Dauerkampagne für mehr Sicherheit im Straßenverkehr, die vom Transportministerium finanziert wird, ist selbst in dem eher harmlosen Bereich Sensibilisierung an Kampagnen nicht sehr viel geschehen.
Nicht nur daran fehlt es. Bei den Behandlungsangeboten besteht ebenfalls Nachholbedarf. Zwar wurde das Angebot nicht zuletzt durch die Dezentralisierung im Krankenhaussektor ausgebaut. Aber mit weniger als 100 Betten für Suchtkranke ist der Mangel groß. Wer sich als Betroffener oder Angehöriger über Therapiemöglichkeiten informieren will, hat es zudem schwer, sich überhaupt erst einmal einen Überblick über Methodik und Wirksamkeit zu verschaffen. Im Therapiezentrum Useldingen erfolgt die Aufnahme auf Überweisung eines Arztes. Das Programm ist abstinenzorientiert. Neuerdings gibt es in der hauptstädtischen Rue Adolphe Fischer ein weiteres Suchtzentrum, in dem auch Angehörige mitbetreut werden.
Eine offene Diskussion über (mögliche) wirksame Therapien, wie sie etwa in Deutschland, Frankreich, Großbritannien und den USA geführt wird, ist hierzulande weitgehend Fehlanzeige. Dabei ist der Leidensdruck bei den Betroffenen hoch. Die Rückfallquote ist sehr hoch: Rund 70 Prozent erleidet nach dem ersten Jahr nach einer Therapie einen Rückfall, die Quote liegt selbst bei einer stationären Behandlung oft bei über 50 Prozent. Nur etwa zehn Prozent der Alkoholabhängigen lassen sich überhaupt behandeln.
Indes findet im Bereich der Behandlung von Alkoholsucht in den vergangenen Jahren ein Paradigmenwechsel statt. Bewarben Therapiezentren, Kliniken und Doktoren die völlige Abstinenz in der Vergangenheit als den einzigen Weg in ein Leben ohne Sucht, ändert sich diese Alles-oder-nichts-Haltung allmählich dank neuer Medikamente. „Wenn man Patienten gesehen hat, die seit Jahren, Jahrzehnten gar, vergeblich versucht haben, vom Alkohol wegzukommen, die dabei sind, an der Sucht zugrunde zu gehen, dann ist das reduzierte Trinken ein Fortschritt und eine echte Therapieoption“, betont Claude Bollendorf. Der Suchtmediziner betreut mit Kollege Jean-Marc Cloos und einem Team eine 28-Betten-Suchtstation der Zitha-Klinik. Frankreich ist Vorreiter, was den Einsatz des Medikaments Baclofen in der Suchttherapie angeht. Das Medikament ähnelt in seiner Struktur einem Neurotransmitter des zentralen Nervensystems und besetzt bestimmte Rezeptoren im limbischen System und im Rückenmark. Baclofen greift in das Belohnungssystem ein und soll die Ausschüttung von Dopamin verhindern, die im Gehirn von Alkoholkranken stattfindet, wenn sie Alkohol sehen oder an ihn denken. Dopamin meldet dem Gehirn, Alkohol wird glücklich machen. Dieses Verlangen nach dem Suchtmittel, auch Englisch Craving genannt, soll durch Baclofen verschwinden.
In Deutschland ist Baclofen bisher nicht zugelassen, eine Studie an der Berliner Charité zeigte aber viel versprechende Resultate. Im Einsatz ist dort eher das 2013 in Europa zugelassene Nalmefen, ein Opiatderivat, das den Druck, Alkohol zu konsumieren, verringern soll. In Luxemburg gibt es keine offiziellen Zahlen, Doktor Bollendorf von der Zitha-Klinik schätzt, dass die Zahl der Alkoholabhängigen, die nach dem Ansatz Konsum reduzieren therapiert werden, zwischen 50 und 100 liegt. Leider sind Statistiken Mangelware, etwas, das durch den Aktionsplan ebenfalls verbessert werden soll. In der Forschung diskutiert wird die Behandlung von Alkoholismus durch psychoaktive Drogen wie Psilocybin und LSD in Verbindung mit Psychotherapie. Dabei geht es um den lebensverändernden, persönlich aufrüttelnden Effekt, von dem Patienten nach der Einnahme berichteten. Zum Nutzen psychoaktiver Substanzen gegen Suchtkrankheiten wurde bereits in den 1960- und 70-er Jahren in den USA geforscht. Wegen Drogenexzesse und der staatlichen Prohibitionspolitik kam die Forschung zum Erliegen. In den letzten fünf Jahren wurden neue Versuchsreihen gestartet, etwa an der Johns-Hopkins-Universität. In Luxemburg gibt es laut Gesundheitsministerium keine eigenständige Forschung zu Wegen der Suchtbekämpfung.
Das Land wollte wissen, welche Therapieansätze und Maßnahmen das Suchtpräventionszentrum Cept für den Aktionsplan fordert, immerhin hatten Mitarbeiter des Cept unter der vorigen Regierung wichtige Vorarbeiten geleistet. Doch Cept-Leiter Michel Ledoux antwortete, Fragen zum Aktionsplan sollten besser mit dem Ministerium geklärt werden. Eine Antwort, die erstaunt, sollte das (staatlich konventionierte) Cept doch nicht nur eine Stelle sein, wo sich Angehörige, Betroffene und Interessierte über Sucht, Behandlung und Prävention informieren können, sondern wo unabhängige Suchtexperten wichtige Impulse zur suchtpolitischen Debatte beitragen.
Solche Zurückhaltung übt Claude Bollendorf nicht: Vor allem dass Alkoholika im ganzen Land frei an Tankstellen erhältlich sind, findet der Suchtmediziner „schlicht unveranwortlich“: Viele Alkoholabhängige würden ihre Droge dort kaufen – und sie noch im Auto konsumieren. Mit teils katastrophalen Folgen für alle Beteiligten, wenn es wieder einmal zu einem Verkehrsunfall wegen zu viel Alkohol am Steuer kommt.