Qu’est ce que la critique? Quand est-ce qu’on sort? Zwei Fragen, in großen Lettern auf den beiden letzten Covern des französischen Filmmagazins Cahiers du cinéma. Unter den gegebenen Umständen der letzten Monate fällt es jedoch schwer, herauszufinden, welche der beiden Fragestellungen die prinzipiellere ist.
Was ist Kritik? Wie soll sie formuliert und ausgehandelt werden? Eine Zeitschrift, die sich seit Jahrzehnten der Kritik und der theoretischen Auseinandersetzung mit dem septième art, der Filmkunst, verschrieben hat, sollte sich diese Frage natürlich immer wieder stellen. Vor die Tür gehen zu dürfen, scheint für die Redaktion der Cahiers aber fürs Erste oberstes Gebot zu sein. Zur Untermalung sind Mathieu Amalric und seine Kollegin Omahyra auf der aktuellen Cahiers-Titelseite. Splitterfasernackt rennen sie in Les derniers jours du monde der Gebrüder Darrieux durch Toulouse.
Vielleicht sind es aber die Filme, die sich nach wochenlanger Kino-Abstinenz zu Wort melden. Quand est-ce qu’on sort ... au cinéma? Oder das Heft selbst. Wann erscheine ich wieder?
Denn das Brimborium um die Referenz der französischen Filmkritik war zuletzt erheblich. Nach Bekanntgabe im Februar, dass ein Kollektiv aus 20 cinephilen Aktionären die Cahiers aufkaufen würde (der vorige Besitzer, der britische Unternehmer Richard Schlagman, der in den 90ern das Verlagshaus Phaedon umstrukturiert hatte, äußerte schon vor einem Jahr den Wunsch, das Heft verkaufen zu wollen), entschied die Redaktion um Stéphane Delorme und Jean-Phillipe Tessé, von einer Klausel im Statut der Journalisten – dem droit de cession – Gebrauch zu machen und en bloc die Redaktion zu verlassen.
Der Interessenkonflikt, den die Redaktion befürchtete, ist leicht nachzuvollziehen. Neben Geschäftsleuten sorgten Produzenten, die sich aus nicht ganz transparenten Gründen einkauften, für heftiges Stirnrunzeln. Unter ihnen: Pascal Caucheteux, seit jeher Produzent der Filme von Arnaud Desplechin oder Pascal Breton, verantwortlich für unzählige französische Serien wie Marseille auf Netflix. Bei den Cahiers war klar, dass die redaktionelle Unabhängigkeit auf dem Spiel stünde. Und über französisches Kino herzuziehen, gehört zu dieser Unabhängigkeit dazu. Le vide politique du cinéma français titelten die Cahiers im Herbst 2015 über einem Dossier, dass damals die Runde machte. Mit Produzenten im Aktionariat könnten solche Dossiers unmöglich werden.
Ob nun gute oder schlechte – Kritik ist, laut Jean Douchet, „l’art d’aimer“. Da Kino an sich, wie Delorme in seinem letzten Leitartikel schreibt, die Kunst des Liebens sei, seien Kunst und Kritik nicht voneinander zu trennen, ja sogar das gleiche. Angelehnt an Walter Benjamins Aphorismensammlung Einbahnstraße aus dem Jahre 1928, versuchen sich die Cahiers in einer ähnlichen Disziplin. Der Mensch Kritiker sei vor allem ein Zuschauer, der Kino als Art, als Kunst, die Welt zu denken und nicht als ihr Spiegelbild verstehe. Das kulturelle, in diesem Fall filmische Kapital sei kein Mittel zum Zweck, sondern werde mit jedem frisch gesehenen Film neu sortiert und abgeändert. Der Kritiker sei kein Schriftsteller mit seinem Stil, nicht Journalist mit seinem Thema, sondern oszilliere zwischen den Disziplinen. Er schreibe keine Kritiken, sondern theorisiere über das Kino. Dies auf den ersten des im ganzen 22 Seiten starken, schönen Dossiers.
„On défend des idées. Pas des auteurs, pas même des films. Il doit faire droit à son émotion. L’émotion n’est pas une défaite, c’est le dessillement de son regard.“ Verwunderlich ist jedoch, wenn nach über 20 Seiten fast Benjaminschen philosophisch-poetischen Ausdrucks in einem bizarren Post-Skriptum des Dossiers die feministischen idées von Iris Brey und ihr Buch Le regard féminin, das ganz spannend vom Versuch eines female gaze handelt, heftig auseinandergenommen werden. Phänomenologisch betrachtet, sind sich die Cahiers und Brey eigentlich gar nicht mal so fern. Brey spricht davon, wie Filme sich auf den Körper auswirken, das Dossier der Redaktion ... auch. Aber wenn plötzlich cultural oder gender studies um die Ecke kommen, werden bei den Herren die Scheuklappen aufgesetzt. So war das schon immer: die Schizophrenie der Cahiers. Aber wie bei Aphorismen von Benjamin gilt es bei Texten einer Filmzeitschrift: Wer sie liest, muss nicht mit allem einverstanden sein.
Die neue Redaktion mit Marcos Uzal – vorher bei Libération und Les Inrocks – an der Spitze hat mit ihrer ersten Ausgabe mehr gekratzt als geschöpft, die Gründe dafür sind bekannt. Bislang haben noch nicht die Produzenten im Aktionariat das Sagen, sondern die von der französischen Regierung angeordnete Stilllegung jeglicher kulturellen Aktivität. Und nein, wenn die Cahiers du cinéma irgendwie doch zum Sprachrohr der lokalen Produktion werden sollten, muss niemand automatisch zu Positif greifen. Es gibt noch andere tolle französischsprachige revues de cinéma: La Sep-
tième Obsession, Trafic, Rockyrama, Sofilm, et cetera, et cetera.