Zugegeben, die Bezeichnung dieses Arbeitsfeldes entbehrt nicht einer gewissen Widersprüchlichkeit: immaterielles Kulturerbe. Da wo mit Blick auf das materielle Kulturerbe Bauten oder Gegenstände zu verstehen sind, fällt es indes vielleicht schwieriger, sich etwas unter immateriellem Kulturerbe vorzustellen – dabei ist es mit der heutigen Eröffnung der 679. Ausgabe der Schueberfouer durchaus von Aktualität. Laut Definition der Unesco-Konvention, der Organisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft und Kultur, zählen zum immateriellen Kulturerbe „Bräuche, Darstellungen, Ausdrucksformen, Wissen und Fertigkeiten – sowie die dazu gehörigen Instrumente, Objekte, Artefakte und kulturellen Räume […], die Gemeinschaften, Gruppen und gegebenenfalls Einzelpersonen als Bestandteil ihres Kulturerbes ansehen.“1 Weiter heißt es auf der entsprechenden luxemburgisch-sprachigen Webseite: „De Leit e Gefill vun Identitéit a Kontinuitéit am Respekt vun der kultureller Villfältegkeet an der mënschlecher Kreativitéit ze ginn – dëst ass dem immaterielle Kulturierwen seng Funktioun an der Gesellschaft.“2 Ein Erbe also, das einem steten Wandlungs- und Anpassungsprozess unterliegt.
Die Unesco sieht Inventare auf nationaler Ebene vor, aus denen heraus einzelne Elemente auf die Unesco Repräsentativliste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit aufgenommen werden können. Auf Letzterer ist für Luxemburg bislang lediglich seit 2010 die Echternacher Springprozession erfasst. Die Verantwortung zur Implementierung und zum Schutz dieses Erbes liegt nicht etwa bei der Unesco, sondern beim jeweiligen Mitgliedsstaat. Auf dem nationalen Inventar sind bisher verzeichnet: D’Iechternacher Sprangprëssessioun, d’Schueberfouer mam Hämmelsmarsch, d’Éimaischen, d’Oktav zu Éier vun der Muttergottes vu Lëtzebuerg (seit 2008). 2018 sind die Haupeschbléiser, also die musikalische Kunst des französischen Jagdhorns, sowie das Drëchemauerbauen, die Kunst des Trockenmauerbaus hinzugekommen; erst kürzlich folgten D’Haus- a Flouernimm, d.h. der Sprachgebrauch von Haus- und Flurnamen, D’Hiewanskonscht, die Hebammenkunst und der Niklosdag, der Festtag des Heiligen Nikolaus. Im Koalitionsvertrag der amtierenden Regierung steht festgehalten, dass der Förderung des immateriellen Kulturerbes eine besondere Priorität zukommen müsse.3 Was als immaterielles Kulturerbe angesehen wird, entscheidet im Gegensatz zum materiellen nicht ein Expertengremium, sondern die Menschen selbst, die sich in sogenannten Trägergemeinschaften zusammenfinden und ihre Gebräuche, Riten, Praktiken, Ausdrucksweisen etc. für sich selbst als kultur- und identitätsstiftend ansehen.
Für dieses Erbe steht seit 2017 der Anthropologe, Historiker, Politikwissenschaftler und vormals Denkmalpfleger Patrick Dondelinger (*1966) Pate. Er ist verantwortlich für die Umsetzung der Unesco-Konvention von 2003. Im Zeitalter der globalen Zirkulation von Menschen, Gütern und kulturellen Praktiken sieht Dondelinger allerdings keine Gefahr, im Gegenteil: „Die erste Bedrohung für immaterielles Kulturerbe besteht im Nicht-teilen-wollen. Wenn man sein Kulturerbe nicht für andere öffnet und mit ihnen teilt, dann stirbt es aus.“ Explizit ist daher auch die Rede vom „lebendigen Kulturerbe [...] lebendig, weil die Menschen es als solches anerkennen und am Leben halten“4. Seine Funktion sieht Dondelinger insofern vor allem in der Bewusstmachung und Sensibilisierung dafür, was Kulturerbe eigentlich ist. Besonders schätzt er den kreativen Aspekt seiner Arbeit: „Das Erbe schreibt sich in eine nachhaltige Entwicklung ein, damit geht eine Sensibilisierung für Traditionsbewusstsein und entsprechender Verantwortung einher. Ich schaffe Voraussetzungen, die die Menschen zusammenfinden lassen und zum Teilen einladen.“
Vor diesem Hintergrund kann man ihm wohl die Rolle eines Kulturschaffenden au sens pur zuschreiben. Er ist sozusagen der Kommunikationsstifter zwischen Trägergemeinschaft, Staat und der Unesco, deren nationaler Kommission Patrick Dondelinger seit 2009 beiwohnt. Es geht darum, Vertrauensgrundlagen zwischen den jeweiligen Instanzen zu schaffen und Brücken zu schlagen. Ausbildung und Werdegang prädestinieren Dondelinger geradezu, sich als Vermittler zwischen den Menschen und den Kulturen zu engagieren: „Als Anthropologe gehe ich vom Menschen aus, vom menschlichen Erleben und wie immaterielles Kulturerbe den Menschen in seiner Persönlichkeit und innerhalb einer Gemeinschaft stärken kann.“ Dafür ist gewiss ein tiefer Glaube an den Menschen gefragt. Dementsprechend unterstreicht Dondelinger die Relevanz der Unesco-Konvention von 2003, die den sozialen Zusammenhalt und die menschliche Lebensqualität ins Zentrum des Erbes rückt, sowie dessen Weitergabe an nachfolgende Generationen. So ist sie für den Anthropologen „von unschätzbarem menschlichen Wert. Ich bin zutiefst überzeugt, dass das lebendige Kulturerbe dem Menschen gut tut.“
Freilich, das immaterielle Kulturerbe erscheint, um es mit Theodor Fontane zu sagen, „ein weites Feld“, indes bestreitet Patrick Dondelinger dieses recht junge Gebiet seit 2017 ganz ohne eigene Mitarbeiter und das auf nationalem wie internationalem Plan! Zum einen begleitet er die Trägergemeinschaften vor Ort, zum anderen kümmert er sich besonders um die Vernetzung und den Dialog mit der Unesco. Das ist ein zeitintensiver Alltag, der mit viel Reisen und Tagungsbesuchen verbunden ist. Tatsächlich verlangt der ständige Kontakt mir den Gemeinschaften auch deren permanente Begleitung, bei der zuvorderst ein Gespür für zwischenmenschliche Beziehungen von Nöten ist, auf denen gleichsam das ganze Unternehmen fußt. Dondelinger sieht in diesem Akt des kulturellen Teilens eine Vernetzungsmöglichkeit für Luxemburg, etwa mit der Großregion, Europa und den Vereinten Nationen. Momentan befinden sich die staatlichen Strukturen zur Förderung der privaten Vereinigungen, die sich für das lebendige Erbe einsetzen, noch in ihren Anfängen. In Zukunft dürften jedoch verstärkt Mittel bereitgestellt werden, um beispielsweise stärker mit den Trägergemeinschaften zusammenzuarbeiten und deren „capacity building“ für den Erhalt ihres Kulturerbes zu gewährleisten.
Welchen Stellenwert haben denn Filmdokumente für die Vermittlung von – und die Bewusstmachung für – immaterielles Kulturerbe? „Der Film als historisches Dokument ist besonders dafür geeignet, die Kontinuität, Entwicklung und Diversität solcher immateriellen Kulturpraktiken festzuhalten und zu vermitteln. Zudem liegt es im Wesen des Films, ja in seiner Medienspezifik mittels bewegter Bilder das lebendige Kulturerbe für spätere Betrachter festzuhalten. Auch eine Mode- und Körperkultur ist besonders gut am filmischen Dokument abzulesen“, so Dondelinger. Da gibt es etwa die Archive des Centre national de l’audiovisuel (CNA) in Düdelingen deren Aufarbeitung im Zuge des vom CNA geplanten Digitalisierungsprojektes Dondelinger mit großem Interesse erwartet. Lohnend erscheint eine Sichtung und darauffolgend eine Veröffentlichung des Archivmaterials auf der eigens gegründeten Webseite. Dieses Archivmaterial soll freilich für jedermann zugänglich sein, denn besonders insistiert Dondelinger darauf, dass das Verständnis des immateriellen Kulturerbes im öffentlichen Bewusstsein gestärkt werden müsse.