Personalisierte Medizin

Mit tausend Euro zur Mutation

d'Lëtzebuerger Land du 15.11.2013

Jean Muller – nennen wir ihn einfach mal so – erhielt Anfang des Jahres die schreckliche Diagnose mitgeteilt: Lungenkrebs im fortgeschrittenen Stadium. Durch eine Operation ist der Tumor nicht mehr zu entfernen und hat schon begonnen, Metastasen zu bilden. Bei einem derartigen Befund geht es in der Behandlung nicht mehr um Heilung, sondern um eine möglichst große Lebenszeitverlängerung bei bestmöglicher Lebensqualität.

Doch dafür stehen bei Muller die Aussichten vielleicht besser als bei anderen Lungenkrebspatienten mit einer ähnlichen Diagnose. Denn mit seinem behandelnden Onkologen entschied er sich, an einem Patienten-Panel beim Lungenkrebsprojekts am Centre der recherche public de la Santé teilzunehmen. Dort werden die Tumoren aller Krebskranken im Panel auf genetische Mutationen getestet. Der Test bei Jean Muller ergab eine Mutation, für die sich ein neues Medikament in der klinischen Erprobung befindet. Muller bewarb sich zur Teilnahme an dieser Studie, wurde aufgenommen und im Sommer an einem Krankenhaus im Ausland mit der neuen Substanz behandelt. Derzeit geht es ihm verhältnismäßig gut. Und vielleicht bleibt das sogar noch ein paar Jahre so – obwohl Lungenkrebs nach wie vor zu den tückischsten und tödlichsten Krebsarten zählt.

Das Beispiel ist fiktiv, der Sachverhalt aber real, und derzeit wird darüber diskutiert, was er für das heimische Gesundheitssystem bedeuten soll. Seit Ende 2011 besteht am CRP-Santé ein solches Patienten-Panel, das zurzeit an die 180 Lungenkrebskranke umfasst. Ihre Tumore werden auf 50 genetische Abweichungen getestet; ein Labor in Belgien besorgt das. Dabei kommt ein Verfahren zum Einsatz, das dem State of the art der Analysetechnik entspricht. Was auch daran deutlich wird, dass in Luxemburger Krankenhäusern bei Lungenkrebs standardmäßig derzeit nur nach zwei Gen-Anomalien gefahndet wird.

„Das ist Standard, weil für diese beiden Mutationen Medikamente zur Verfügung stehen“, erklärt Guy Berchem, Onkologe am Centre hospitalier de Luxembourg und Leiter des Lungenkrebsprojekts am CRP-Santé. Diese targeted drugs wirken ganz gezielt auf die betreffenden genetischen Pfade ein und hemmen den Tumor zumindest eine Zeitlang am weiteren Wachsen. Sie betreffen zwar in dem einem Fall nur 0,7 Prozent und im anderen nur zwei Prozent aller Lungentumoren, aber immerhin. Für Darmkrebs, für Brust- und für Hautkrebs stehen ebenfalls die ersten targeted drugs bereit. Auch dabei wird nach je einer Gen-Abweichung gefahndet – standardmäßig.

Willkommen in der Welt der Pharmakogenetik, die verspricht, eines Tages Medikamente anzubieten, die ganz zielgerichtet funktionieren – je nachdem, welches genetische Profil ein Patient hat und welches Profil ein Tumor, der eine Art Organismus für sich darstellt. Die Pharmakogenetik ist ein Teilbereich der „personalisierten Medizin“, die es ermöglichen soll, Erkrankungen „individualisiert“ zu behandeln. Damit sind nicht nur Krebserkrankungen gemeint, aber bei Tumorbehandlungen kommt der Stand des medizinischen Fortschritts den Verheißungen der Pharmakogenetik noch am nächsten. Doch: Wenn gegenwärtig nur für zwei Mutationen an einem Lungenkrebs zielgerichtete Behandlungen verfügbar sind, weshalb sollte man dann noch nach 48 weiteren Abweichungen fahnden?

Berchem will beweisen, dass das sinnvoll wäre, und hat dafür am CRP-Santé das Patienten-Panel zusammengestellt. „Zwar sind zurzeit nur zwei Medikamente am Markt, aber weitere befinden sich in der Erprobung.“ Je mehr Mutationen man kennt, desto rascher könne man einen Patienten in einen klinischen Versuch unterbringen, der seine Behandlungsaussichten womöglich über die aus einer Standard-Chemotherapie hinaus verbessert. Denkbar sei auch, dass ein neues Medikament, das einer der getesteten Mutationen entspricht, kurz vor seiner Marktzulassung steht: „Dann kann man versuchen, es so schnell wie möglich zu erhalten.“

Und drittens schließlich könne ein Onkologe über einen Tumor „nie genug wissen“. Berchem verweist auf die Jahrestagung der International Association for the Study of Lung Cancer vor drei Wochen. Dort wurde eine Zusammenfassung klinischer Studien aus den USA vorgestellt. Sie galten Gen-Abweichungen in Lungentumoren, in denen ein Defekt als ein so genannter „Treiber“ ganz besonders verantwortlich ist für Wachstum und Aggressivität der Tumoren. Die Präsentation galt auch den beiden Mutationen, die bereits standardmäßig in Luxemburg getestet werden, aber noch weiteren acht, für die Medikamente entweder kurz vor der Zulassung stehen oder sich noch in der Endphase der Erprobung befinden. Resultat der Präsentation: Behandle man diese Treiber-Gene, ergebe sich ein mittlerer Zugewinn an Lebenszeit um fast ein Jahr gegenüber einer Therapie, die nicht auf einen Treiber zielt. „Das entspricht einer mittleren Überlebensrate von insgesamt zweieinhalb Jahren bei einem metastasierenden Lungenkrebs, das ist enorm“, sagt Berchem. „Es ist noch nicht lange her, da lag die Rate unter einem Jahr.“

Fragt sich nur, wer die Extra-Gentests bezahlt, die dieses Zusatzwissen liefern sollen. Der 50-Mutationen-Test kostet 1 000 Euro pro Patient. Für die im Panel am CRP-Santé werden die Kosten zurzeit noch aus Forschungsmitteln getragen, doch das Projekt wird Ende des Jahres abgeschlossen. Könnte anschließend die Gesundheitskasse übernehmen? Ein Treffen zwischen CRP-Santé und CNS fand schon statt, aber „für klinische Forschung zahlen wir nicht, das ist sicher“, sagt der stellvertretende CNS-Präsident Jean-Paul Juchem. Die CNS trage die Kosten für „fokussierte Behandlungen mit Medikamenten, die zugelassen sind, für die es Leitlinien gibt und bei denen klar ist, wann ihr Einsatz angebracht ist“.

Das klingt nach Bürokratie, doch mit dieser Haltung wird die CNS ihrer Rolle gerecht. Dass die öffentliche Krankenversicherung nur für das „Nützliche und Notwendige“ aufkommt und nur bei Krankheit und Krankheitsverdacht, steht im Krankenversicherungsgesetz. Einem Krebspatienten zu helfen, schnell in einen klinischen Versuch zu gelangen, in dem der Nutzen eines neuen Medikaments erst noch getestet werden soll, sprengt diesen Rahmen. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass 1 000 Euro für einen Gentest pro Lungenkrebspatient so viel nicht wäre: Im Jahr 2010, so weit reichen die jüngsten verfügbaren Daten, wurden 169 neue Lungenkrebsfälle in Luxemburg gezählt. 169 000 Euro an jährlichen Mehrausgaben für Lungenkrebs-Gentests aber sehen wie Peanuts aus, verglichen mit den 16 Millionen Euro, die die CNS im selben Jahr für Chemotherapien aller Art ausgab. 2011 waren es dann schon 17 Millionen. Seit der Jahrtausendwende haben sich die Ausgaben für Chemotherapien nahezu verdreifacht.

Damit wird über die Gentest-Frage wohl grundsätzlich politisch entschieden werden müsen. Denn wer an einem Krebs im fortgeschrittenen Stadium leidet, hat nicht viel Zeit, um nach der bestmöglichen Behandlung zu suchen. Wie wenig Zeit dann bleiben kann, zeigte sich, als Luxemburg vor ein paar Jahren an einer länderübergreifenden Studie über den Einfluss von Radonbelastungen auf die Bildung von Lungenkrebs teilnahm: Der Teilnehmerkreis aus dem Großherzogtum hatte damals kurzfristig vergrößert werden müssen, weil sechs Monate nach Studienbeginn die Hälfte der Lungenkrebspatienten in der Testgruppe schon nicht mehr am Leben war.

Und sogar für die Standardtests auf spezifische Krebs-Mutationen gibt es zwar Richtlinien zur Durchführung, aber keine klaren Regeln zur Finanzierung. Gegenwärtig führt das Laboratoire national de santé (LNS) die Tests entweder selber durch oder lässt im Ausland testen, und damit gehen die Kosten zulasten des LNS-Budgets und später der Staatskasse. Festgeschrieben ist die Zuständigkeit des LNS dafür aber nicht – und deshalb wäre es auch nicht ohne weiteres möglich, dass anstelle der Krankenversicherung der Staat die Kosten für Extra-Krebsgentests trägt.

„Eine Grundsatzdebatte wird sicherlich eine Baustelle für die nächste Regierung sein“, sagt der noch amtierende Gesundheits- und Sozialminister Mars Di Bartolomeo (LSAP). Gesprochen werden müsse dort auch ganz prinzipiell über die personalisierte Medizin, in der Luxemburg ja eine besondere Vorreiterrolle spielen will, seit vor fünf Jahren mit vier US-amerikanischen Forschungseinrichtungen eine Partnerschaft abgeschlossen wurde, über die hierzulande eine Biotech-Branche aufgebaut werden soll, die vor allem neue Diagnosemöglichkeiten entwickelt.

Doch genauso, wie 2008 die damalige Regierung im Alleingang beschloss, die luxemburgisch-amerikanische Partnerschaft anzuschieben und mit 140 Millionen Euro aus der Staatskasse zu unterstützen, und sie diesen Schritt nicht etwa im Parlament zur Diskussion stellte, wurde bisher noch nie öffentlich debattiert, was das Bekenntnis zur personalisierten Medizin und ihr Aufbau als Teil einer wirtschaftlichen Diversifizierungsstrategie für die Gesellschaft mit sich brächte. Aus dem Wirtschaftsministerium ist zu hören, ein „kohärenter Ansatz“, durch den in „Pilotprojekten, die Sinn machen“, gezeigt wird, wie die personalisierte Medizin im Luxemburger Gesundheitssystem „greift“, sei sehr wünschenswert. Dass Gesundheitsministerium und Sozialversicherung dabei „eine proaktivere Rolle spielen“, auch.

Der Wunsch nach „Sichtbarkeit“ der Luxemburger Bemühungen ist verständlich, denn die Versprechen der personalisierten Medizin werden vor allem in der Krebs-Pharmakogenetik immer größer: Der britische National Health Service hat angekündigt, die Behandlung von bis zu 6 000 Krebspatienten jährlich durch Anpassung der Behandlung an die genetischen Mutationen der Tumoren zu „personalisieren“. Ein internationales Cancer Genome Project will die Reaktion von 350 Krebsproben auf 18 Medikamente testen, ein norwegisches Konsortium nach Mutationen in häufigen Krebsen suchen, und ein Programm von Cancer Research UK ist dabei, einen Routine-Gentest für Krebspatienten aufzustellen, der schon in der ersten Phase Brust-, Darm-, Lungen-, Prostata-, Haut- und Eierstockkrebs umfassen soll.

Angesichts so einer imposanten Entwicklung stellt sich nicht nur die Frage, wie die kleine Luxemburger Biotech-Branche auf sich aufmerksam machen könnte. Werden Gentests für Krebspatienten tatsächlich bald schon Routine, muss die Kostenübernahme durch Krankenkassen zum Thema werden. Absehbar wird aber auch, dass die Pharmakogenetik immer gezieltere und gleichzeitig immer teurere Medikamente hervorbringt: Eine einzige Behandlung mit einer 2011 auf dem Markt erschienenen targeted drug für einen spezifisch mutierten Schwarzen Hautkrebs zum Beispiel schlägt für die CNS mit bis zu 120 000 Euro zu Buche. Ältere gezielte Medikamente kosten 30 000 bis 50 000 Euro pro Einsatz. Bei solchen Kostensteigerungen stellt sich nicht nur die Frage, was eine personalisierte Medizin der Gesellschaft wert ist, sondern auch, wie sie zur solidarischen Krankenversicherung passt und wie man verhindern will, dass bei knapper werdenden öffentlichen Mitteln die Ausgaben für die „Medizin für alle“, wie Impf- oder Präven-tionsprogramme, gekürzt werden zugunsten der Förderung einer individualisierten Medizin, die auch Wirtschaftsfaktor sein soll.

Peter Feist
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