d’Land: Professor Muller, bald ist wieder Grippezeit. Anfang des Jahres war in China ein neues Geflügelgrippevirus aufgetaucht und es war schon wieder von „Pandemie“ die Rede. Könnte H7N9 groß ausbrechen, wenn es kälter wird?
Claude P. Muller: Man darf das Vogelvirus H7N9 nicht mit dem saisonalen Grippevirus verwechseln. Mit den Jahreszeiten und der Wetterlage hat das Auftauchen von H7N9 wahrscheinlich nichts zu tun.
Vor vier Jahren wurden die Leute im Oktober aufgerufen, sich gegen die Schweinegrippe H1N1 impfen zu lassen.
Und gleichzeitig auch gegen die saisonale Grippe. Man muss unterscheiden zwischen Influenzaviren, die beim Menschen die saisonale Grippe verursachen, und Influenzaviren bei Tieren, die manchmal den Menschen infizieren können – je nach ihrer genetischen Beschaffenheit. Tier-Influenzaviren kommen besonders bei Vögeln, aber auch in Schweinen vor, seltener in Pferden. Mittlerweile weiß man, dass sie auch bei anderen Tieren vorkommen können, etwa bei Katzen.
Bei Katzen?
Das sind Beispiele, die in der Literatur beschrieben wurden. Sie sind zunächst ungewöhnlich: Noch haben diese Viren sich genetisch nicht so entwickelt, dass Katzen ein Reservoir für sie sein könnten. Wie etwa vor vier Jahren, als H1N1 vom Schwein auf den Menschen übergegangen war und sich voll an den Menschen angepasst hat. Eine vergleichbare Anpassung eines Vogelgrippevirus an den Menschen könnte sehr gefährlich werden.
Das ist aber beim H7N9-Virus noch nicht der Fall?
Genau. China ergriff konsequente Maßnahmen, wie die Schließung der Geflügelmärkte in den vom Ausbruch von H7N9 betroffenen Provinzen. Dadurch wurde das Virus eingedämmt. Einen Monat lang gab es keinen einzigen neuen Fall. Anschließend wurden nur noch wenige sporadische Erkrankungen bekannt. Man muss nun schauen, wie die Lage sich entwickelt. Gefährlich ist H7N9 auf jeden Fall. Seit dem Ausbruch im Februar wurden in China 135 Fälle gezählt, 44 der Erkrankten starben. Deshalb war die Weltgesundheitsorganisation im Frühjahr so besorgt wegen H7N9. Der Virustyp H7 stand schon immer im Verdacht, eine Pandemie auslösen zu können.
Gibt es die Vogelgrippe H5N1 noch?
Allerdings. Es ist nicht etwa so, dass Vogelgrippeviren sich abwechseln, dass H5N1 geht, H7N9 kommt. Nur die saisonalen Human-Influenzaviren wechseln sich gewissermaßen ab. Noch ist H5N1 nicht so beschaffen, dass er leicht auf den Menschen übergehen kann, um ein erhöhtes Pandemierisiko darzustellen Aber die Abteilung für Immunologie am CRP-Santé hat bei Untersuchungen in Ägypten ermittelt, dass H5N1 sich dort immer mehr an den Menschen als potenziellen Wirt anpasst.
Wie schnell geht das?
Man hat den Eindruck, dass dieser Prozess sich beschleunigt.
Man könnte auch den Eindruck haben, dass sich Viren häufen, die dem Menschen eines Tages sehr gefährlich werden könnten. H5N1 ist noch da, H7N9 war aufgetaucht und ist auch noch da, und Anfang des Jahres gab es viel Aufregung um den im Nahen Osten aufgetretenen Coronavirus Mers.
Die Wissenschaftler schauen natürlich genauer hin und die technischen Möglichkeiten zur Detektion und zur Analyse eines Virus werden immer besser. Die Gesundheitsbehörden sind ebenfalls aufmerksamer, und sie sind weltweit vernetzt. Hinzu kommt, dass die Medien rasch reagieren und berichten, wenn irgendwo eine ungewöhnliche Epidemie ausbricht. Früher war das nicht so.
Am Ende ist alles in erster Linie ein Medienphänomen?
Nicht nur! Die Häufigkeit solcher Ausbrüche hat sicherlich auch mit der zunehmenden Bevölkerungsdichte zu tun. Leben viele Menschen dicht zusammen, wächst die Wahrscheinlichkeit, dass sie untereinander Erreger weitergeben. Auch die Ernährungsgewohnheiten spielen eine wichtige Rolle, insbesondere für die Verbreitung von Tierviren. Wenn doppelt so viele Menschen doppelt so viel Fleisch verzehren wie früher, wird dafür vier Mal mehr Fleisch und Vieh produziert. Viren verbreiten sich leichter in einem dichten Viehbestand, und Menschen mit intensivem Kontakt zu diesen Tieren können sich mit Viren infizieren, die normalerweise nicht ohne weiteres auf den Menschen übergehen. Deshalb sind Geflügelmärkte regelrechte Hotspots für Viren, wie etwa Geflügelgrippeviren. Es gibt auch Vogelviren, die den Menschen bisher kaum infizieren können, wie das Newcastle Disease-Virus. Unsere Abteilung untersucht deshalb gerade Geflügelmärkte in Westafrika und in Asien auf neue Virusarten und -varianten.
Wenn von Ihrer Abteilung in Ägypten ermittelt wurde, dass H5N1 leichter auf den Menschen übergehen kann als früher, dann könnten nicht alle Krankheitsfälle bekannt werden, oder?
Leider ja. Man muss davon ausgehen, dass mehr Menschen an H5N1 gestorben sind, als tatsächlich bekannt wurde. Ebenfalls anzunehmen ist, dass insbesondere leichte Krankheitsverläufe unentdeckt blieben. Besonders bei kleinen Kinder scheint das der Fall gewesen zu sein.
Ein Glück für die Kinder ...
Ja, aber aus der Sicht der öffentlichen Gesundheit ist das problematisch. Ein Virus, das sich subklinisch ausbreitet, kann plötzlich an vielen Orten „explodieren“. So wie in den Achtzigerjahren HIV. Dieses Virus hatte sich zunächst unbemerkt ausbreiten können, auch wegen seiner langen Inkubationszeit, und als es endlich entdeckt wurde, waren schon viele damit infiziert.
Aufgefallen war dagegen vor zehn Jahren der Sars-Virus.
Das Severe acute respiratory syndrome war eine schwere Lungenentzündung und das Sars-Virus hochansteckend. Als das Virus nachgewiesen war, wurden die Gesundheitsämter weltweit informiert. Ärzte achteten besonders auf schwere Atemwegs-erkrankungen. Kliniken wussten Bescheid, und betroffene Patienten wurden isoliert. Die Personen, mit denen sie Kontakt hatten, wurden aufgesucht und ebenfalls isoliert. Dieses aktive und konsequente Vorgehen hat schließlich zur Eindämmung von Sars geführt.
Das Middle Eastern Respiratory Syndrome Mers ist ebenfalls eine schwere Erkrankung. Im Sommer war gefürchtet worden, an dem Virus, das vor allem in Saudi-Arabien umging, hätten sich muslimische Pilger in Mekka während des Ramadan massenhaft infizieren können.
Ja, aber zu der befürchteten Epidemie kam es nicht. Heute wissen wir, warum Mers nicht so stark infektiös ist. In der Epidemiologie spricht man von der Basic reproduction number. Sie gibt an, wie viele Personen ein Kranker anzustecken vermag. Liegt die BRN unter eins, geht die Infektionskrankheit langsam zurück, der Kranke infiziert weniger als eine gesunde Person und das Virus verschwindet allmählich. Die höchste BRN von rund 14 hat das Rötelnvirus. Es gilt deshalb als das ansteckendste Virus.
Und im Falle einer Pandemie ist die BRN nicht mehr zu zählen?
Nein, die Influenza hat eine BRN von drei bis sechs. Die Ausbreitung eines Virus hängt davon ab, wie anfällig die Bevölkerung für die Infektion ist, welchen immunologischen Schutz sie hat, wie dicht die Menschen zusammenleben, wie schnell sie den Arzt aufsuchen, wie wachsam und aktiv die Behörden auf Infektionskrankheiten reagieren, und so weiter. Die Behörden in China zum Beispiel haben viel gelernt aus ihren Erfahrungen mit H5N1 und bei H7N9 sehr entschlossen und transparent reagiert.
Wie konnte bei einem solchen Wissensstand die Schweinegrippe H1N1 vor vier Jahren in ihrer Gefährlichkeit dann so grandios überschätzt werden?
Dazu muss man zwei Dinge wissen. Erstens: Das H1N1-Virus trat zunächst in Mexiko auf. Die dortigen Behörden reagierten schnell und waren sehr um Transparenz bemüht. Nach den ersten Nachrichten aus Mexiko schien es, als sei H1N1 mit hoher Mortalität assoziiert. Das war ein Schock. Es tötete zudem in erster Linie junge und gesunde Menschen, es verhielt sich nicht wie die saisonale Influenza. All das war sehr untypisch und wurde als Zeichen besonderer Gefährlichheit gedeutet. Die Weltgesundheitsorganisation WHO sagte: Sollte dieses Virus sich ausbreiten – und das ging ja dann auch sehr schnell –, dann steuern wir auf eine Pandemie zu.
Wegen dieser Einschätzung wollte man möglichst schnell einen entsprechenden Impfstoff zur Verfügung haben. In den USA galt eine Spezialprozedur, nach der ein Impfstoff besonders schnell entwickelt und von den Behörden zugelassen werden konnte, wenn die Gefahr einer Pandemie gegeben war. Dazu aber musste die WHO formal eine Pandemie ausrufen oder zumindest die Gefahr einer Pandemie erklären. Dieses Vorgehen beruhte auf Erfahrungen und Befürchtungen im Zusammenhang mit dem hochpathogenen H5N1. Das Pandemievirus H1N1 war und ist Gottseidank nie so virulent geworden, wie zu Beginn gefürchtet.
Das heißt aber, es ging um eine Prozedur zwischen Behörden und Pharmaindustrie, und die WHO half tatsächlich nach bei der schnellen Entwicklung eines Impfstoffs, der dann in alle Welt verkauft, aber kaum genutzt wurde?
Nein. Die USA reagierten vor allem wegen ihrer Nähe zu Mexiko besonders wachsam. Dass man einen Impfstoff entwickeln ließ und dafür eine beschleunigte Prozedur in Anspruch nahm, halte ich auch heute noch für absolut richtig. Man stelle sich nur mal vor, man hätte diese Möglichkeit zur Verfügung gehabt, sie aber aufgrund einer zu laxen Einschätzung der Situation nicht genutzt. Ich meine, dann wäre die Empörung – zu Recht – grenzenlos gewesen.
Am Ende aber wurden die meisten Impfdosen trotzdem nicht gebraucht.
Im Nachhinein sind immer alle klüger. Und es gibt Staaten wie Polen, die das Vakzin nicht auf Vorrat kauften und deren Regierungen sich später sehr schlau vorkamen. Aber stellen Sie sich vor, was in Luxemburg losgewesen wäre, wenn es den Impfstoff gegeben, die Regierung aber entschieden hätte: Wir kaufen ihn nicht, wir setzen unsere Bevölkerung lieber einer Pandemie aus, weil wir auf keinen Fall in den Verdacht kommen wollen, im Sinne der Pharmaindustrie gehandelt zu haben? Welches Risiko ist größer?
Dann hätte die WHO vielleicht warten sollen mit der Ausrufung der Pandemie, um sich nicht übergroßer Nähe zu Big Pharma verdächtig zu machen.
Im ersten Punkt gebe ich Ihnen Recht. Die WHO betrachtete damals vor allem die Ausbreitungsgeschwindigkeit von H1N1, nicht aber, dass das Virus nicht virulenter war als die saisonale H1N1-Influenza – die gibt es auch, ihr Erreger aber nicht zu verwechseln mit dem Schweinegrippevirus – und nur in wenigen Fällen zu schweren Erkrankungen führte. Die Ausrufung der Pandemie fand ich schon damals keine gute Idee, die beschleunigte Entwicklung eines Impfstoffs aber sehr wohl.
Was Big Pharma angeht: Mit den Einnahmen aus dem Impfstoffverkauf werden in erster Linie Gehälter von Mitarbeitern bezahlt, die ein lebensrettendes Knowhow besitzen. Und was Profite angeht: Die aus dem Verkauf von Beta-Blockern und Cholesterinsenkern sind weitaus höher, der Effekt für die öffentliche Gesundheit aber ist vergleichsweise gering. Darüber spricht bloß keiner, weil wir uns daran gewöhnt haben.
Wird es eines Tages einen universellen Grippe-Impfstoff geben? Einen, der nicht nur gegen die saisonale Influenza wirkt, sondern auch gegen alle möglichen Vogel- und Schweinegrippeviren?
Ich denke schon. Im Rahmen eines EU-Projekts arbeiten wir gerade an einem solchen Impfstoff mit. Es geht dabei darum, Antigene zu definieren, die in verschiedenen bekannten Subtypen von Influenzaviren konserviert sind.
Müsste man nicht auch die Beschaffenheit von künftigen Viren vorhersagen können?
Es gibt, vereinfacht gesprochen, in allen Influenza-Subtypen gemeinsame, ähnliche Strukturen. Die werden sich auch in Zukunft kaum verändern. Es wird darauf ankommen, diese „konstanten Anteile“ zu betrachten. Und zu testen, ob Antigene, die daraus abgeleitet werden, für eine Immunität gegen verschiedene Influenza-Subtypen ausreichend sind.