Die Dezentralisierung der Psychiatrie ist so gut wie abgeschlossen. Doch noch immer wird in Luxemburg zu oft stationär behandelt

Emanzipation

d'Lëtzebuerger Land du 27.09.2013

„Wir wollten eine Etappe der Psychiatriereform abschließen und Perspektiven für die nächste geben“, sagte Gesundheitsminister Mars Di Bartomolemo am Donnerstag vor Journalisten. Anlass: die Vorstellung des Berichts Reform der Psychiatrie und Politik der mentalen Gesundheit des Forschungsinstituts CRP Santé, der Kerndaten zur psychiatrischen Versorgung in Luxemburg liefert, die Umsetzung der Psychiatriereform analysiert und Vorschläge für weitere Entwicklungsstufen gibt. – Und wohl auch ein wenig Werbung für die LSAP-Gesundheitspolitik machen, es ist schließlich Wahlkampf. Di Bartolomeo beteuerte zwar, es gehe ihm nicht darum, „mir selbst auf die Schulter zu klopfen“.

Dabei wäre das gar nicht mal so vermessen. Die Untersuchung des CRP Santé, die vor allem auf Expertengesprächen und Datenanalysen beruht, zeigt: Die psychiatrische Versorgung wurde in den vergangenen Jahren dezentralisiert, aus- und umgebaut. Viele Baustellen, etwa die Regelung von Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie, der Ausbau von Wohnbetreuungsstrukturen, wurden unter dem sozialistischen Gesundheitsminister angepackt.

Anhand der Zahlen lässt sich das nur teils ablesen, die Datenlage zur psychiatrischen Versorgung ist noch immer recht lückenhaft. Das ist eine Schwachstelle, die künftig unbedingt verbessert werden muss, vor allem wenn sich das Luxemburger Gesundheitswesen international messen will. So gehen Zahlen, etwa über Belegdauer und Krankengeschichte, auf 2009 zurück, was eine realistische Einschätzung über Mangel und Überhänge bei der Krankenversorgung erschwert. Wichtige Daten, über den sozialen Hintergrund der Patienten sowie Analysen typischer Krankheitsverläufe und eventueller Mehrfachbehandlungen, fehlen gänzlich. Weshalb der Bericht ein wichtiges Anliegen des Gesundheitsministers aufgreift und für die Zukunft ein Observatoire de la santé fordert.

Der 66-seitige Bericht weist auch auf bedenkliche Entwicklungen hin. Beispielsweise auf eine Untersuchung aus dem Jahre 2010, wonach in Luxemburg die Einnahme von Psychopharmaka im Vergleich zum Ausland hoch ist. Rund 70 Prozent der außerstationär ausgegebenen Medikamente werden von Allgemeinmedizinern und nicht etwa vom Facharzt verschrieben. Der Großteil, rund 60 Prozent, sind, das belegt eine weitere Studie, Schlaf- und Beruhigungsmittel (Benzodiazepine), die oft über mehrere Wochen und Monate verschrieben werden. Ebenfalls bekannt und nicht minder besorgniserregend: Häufigste Todesursache bei jungen Menschen zwischen 15 und 33 Jahren ist der Suizid. Das Gesundheitsministerium hat besonders in diesem Bereich die Bemühungen um eine bessere Vernetzung der Hilfsangebote und der Akteure verstärkt.

Fast ein Fünftel, 21 Prozent, der psychiatrischen Klinikaufenthalte sind auf Depressionen zurückzuführen, die Studie beruft sich auf Daten der Inspection générale de la sécurité sociale aus dem Jahr 2009. Alkohol (und die damit verbundenen gesundheitlichen Folgeerscheinungen) war mit 31 Prozent der am häufigsten genannte Grund für eine stationäre Unterbringung. Doch obwohl Alkohol enorme Kosten für die Betroffenenm, aber auch für die Gesellschaft bedeutet, gebe es immer noch keine nationale Strategie zur Bekämpfung, moniert der Bericht kritisch. Man könnte auch sagen: selbstkritisch, denn die Analyse wurde vom Ministerium in Auftrag gegeben und finanziert. Man arbeite derzeit an einem Aktionsplan Alkohol, so Minister Di Bartolomeo, der die Bedeutung der „interministeriellen Zusammenarbeit“ unterstrich.

Die CRP-Forscher stellen dem Sektor – und indirekt auch dem Gesundheitsminister – zahlreiche gute Noten aus: etwa bei der Dezentralisierung der Psychiatrie. Sie ist so gut wie abgeschlossen. Das psychiatrische Krankenhaus in Ettelbrück CHNP, das jahrzehntelang als einziger Anbieter die psy-chiatrische Versorgung quasi allein verantwortet und oft auch im Alleingang durchgezogen hat, wurde neu aufgestellt. Mit seinen 237 Betten bleibt es zwar ein Schwergewicht in der landesweiten Versorgung, aber es fügt sich nun ein in ein Netz mit dezentralen Krankenhäusern und ambulanten Angeboten und hat neben der Rehabilitation von Langzeitpatienten die Schwerpunkte Jugendpsychiatrie, Forensik und die Behandlung von Alkoholkranken, deren ambulante Versorgung weiter ausgebaut werden soll.

Derzeit gibt es landesweit rund 479 Klinikbetten, die allein psychiatrischen Fällen vorbehalten sind, das entspricht 17 Prozent aller Krankenbetten. Allerdings klafft bei der Versorgung weiterhin ein regionales Gefälle: Im Süden ist die Dichte an Krankenhausbetten etwas geringer. Im Norden kommen auf 100 000 Einwohner fast 58 Betten (ohne die Langzeitbetten des CHNP). Im Zentrum sind es 42 und im Süden sind es sogar nur 29.

Neben den Akutkrankenhäusern wurde in den vergangenen Jahren auch verstärkt in ambulante Angebote investiert. Es gibt vier, respektive drei große Player: Reseau psy, Liewen dobaussen und die 2013 fusionierten Centre de santé mentale und das 1979 von Mitarbeitern des CHNP gegründete Cercle d’entraide et de réadaptation pour malades mentaux (Cermm). Das Angebot beim betreuten Wohnen für Menschen mit pychischen Problemen wurde ausgebaut und lag laut CRP-Studie zuletzt bei 220 Plätzen und 227 betreuten Personen. „Da muss aufgestockt werden“, sagt Marc Graas, Generaldirektor des Ettelbrücker CHNP, eine Einschätzung, die der Gesundheitsminister teilt.

Doch obwohl die Dezentralisierung erfolgreich umgesetzt wurde, gibt es Schwachstellen. So liegt der Akzent der psychiatrischen Versorgung allen politischen Lenkungsbemühungen zum Trotz noch immer weitgehend auf der stationären Behandlung statt auf der ambulanten. Dies werde sich dank der Demografie allmählich ändern, ist Mars Di Bartolomeo überzeugt, wenn nämlich wegen der steigenden Zahl an Demenz-Patienten der Druck für die Kliniken steige, mit ihren Betten effizienter zu planen. Ein weiterer Bettenausbau mache keinen Sinn, warnt der Minister. Gut möglich, dass sein Nachfolger dies angesichts leerer Staatskassen ähnlich sieht.

Auch die Vernetzung der verschiedenen Dienste, die Orientierung und die Nachbetreuung psychiatrischer Patienten seien verbesserungsfähig, so die Studie. Gerade auch die ambulanten Dienste klagen, dass sie noch immer nicht ausreichend von den Krankenhäusern über ihre Patienten und vorangegangene Behandlungen informiert würden. Dadurch steige die Gefahr von Mehrfach- oder Fehlbehandlungen. „Die Übergänge müssen verbessert werden“, betont der zuständige Koordinator im Gesundheitszentrum und Ko-Autor des Berichts Roger Consbruck, der die Anbieter in der Pflicht sieht.

Für die Nachfolge-Regierung bleibt dennoch genug zu tun. Als die schwarz-blaue Koalition mit dem Spitalplan von 2001 die bereits 1991 vom Psychiatrie-Professor Heinz Häfner empfohlene Dezentralisierung endlich beschloss, bestand außer dem Aufbau von Akutkrankenhaus-Abteilungen die Herkulesaufgabe darin, die heillos zerstrittenen Akteure der stationären und der ambulanten Versorgung wieder miteinander ins Gespräch zu bringen. Im Rahmen der Plattform Psychiatrie, unter Leitung des Gesundheitsministeriums, rauften sie sich zusammen. So konnte die Dezentralisierung verhältnismäßig zügig organisiert werden. Mit der wachsenden Professionalisierung und Differenzierung des psychiatrischen Angebots wuchsen außer der Teilnehmerzahl auch die konzeptuellen Aufgaben der Plattform – ohne dass ihre Funktion vom Gesetzgeber jemals präzise abgesteckt worden wäre. Auch der Conseil scientifique hilft nicht wirklich. Er gibt unverbindliche Empfehlungen, jedoch nicht im Bereich der psychiatrischen Versorgung. Die Leistung, die damaligen Fronten aufgebrochen und eine neue Dynamik in Gang gesetzt zu haben, kann gar nicht groß genug eingeschätzt werden. „Das gibt es in keiner anderen medizinischen Disziplin“, lobt ein Teilnehmer gegenüber dem Land.

Trotzdem stößt das Gremium inzwischen an seine Grenzen. Etliche Aufgaben, wie der Aktionsplan Alkohol, wurden an themenspezifische Arbeitsgruppen delegiert. Um einen nationalen Rahmenplan zu erstellen, der das Miteinander der diversen psychiatrischen Angebote im Land präziser definiert, die Aktionspläne koordiniert und sie überdies mit den anderen Ministerien abstimmt, braucht es eine zentrale Steuerungsstelle im Minsiterium – und ein emanzipiertes Gegenüber auf der Seite der Leistungsanbieter. Weshalb Stimmen immer lauter werden, die fordern, der Plattform eine neue Form und klare Kompetenzen zu geben.

Allerdings, und das ist eine Schwäche des Berichts: Wer genau was fordert, wird nicht richtig deutlich: Denn obschon der Bericht auf über 70 Experteninterviews, darunter Vertreter der Plattform Psychiatrie, basiert: Deren Positionen sind im Bericht nicht aufgeschlüsselt, sondern wurden zu einer Synthese zusammengefasst und flossen so mit in die Empfehlungen ein. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass da eine Anti-Haltung kommt“, so Di Bartolomeo zuversichtlich. Dass allerdings alle Akteure mit den Plänen des Ministers einverstanden sind, ist wegen unterschiedlicher Interessenlagen wenig wahrscheinlich. Die Plattform, die am Donnerstag über den Bericht diskutierte, hat bereits angekündigt, eine eigene Position auszuarbeiten. Vielleicht bekommt sie bald einen neuen Minister?

Ines Kurschat
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