Wie lange erträgt der Mensch Zweisamkeit? Wann wird ihm Gesellschaft zuwider? Allgegenwärtig ist der regelmäßige Drang nach Rückzugsmöglichkeiten bereits beim vierjährigen Quengler, beim pubertierenden Teenager, nicht weniger beim gestressten Erwachsenen. Wer dieser Gelegenheit beraubt wird und dem Bedürfnis nach innerer Einkehr nicht nachgehen kann, ist zum ständigen Miteinander verdammt. Er lebt die Hölle.
1944 wurde einer der Vorreiter des absurden Theaters, Huis Clos des Philosophen und Dramatikers Jean-Paul Sartres, uraufgeführt. Seitdem gilt dieses Bühnenstück als erfolgreichstes und bekanntestes seines Urhebers. Sartre verarbeitet darin den Zustand auferlegter Dreisamkeit und erhebt ihn auf eine soziologische Ebene. Er schafft die Hölle einem ersten Anschein nach als Konkretum und entledigt sie damit ihres allegorischen Charakters: Inès, eine lesbische Postbeamtin, Garcin, ein Journalist, und die wohlhabende, leicht dümmliche Estelle finden sich nach ihrem Tode in einem Zimmer ein, ohne Fenster, ohne Spiegel, eingerichtet im Stil des Second Empire. Das Dreigespann erkennt umgehend, dass dies die Hölle sein muss und der Folterknecht auf sie wartet. In Erwartung der anstehenden Buße verwickeln sich die Figuren in Dialoge der Verachtung, des Misstrauens, der Tortur. Mit wachsendem Hang zum Sadismus ermittelt ein jeder die Schuld des anderen, jeder Gegenpart die Lebenssünde des Ichs: Garcin, der notorische Feigling, der seine Frau mit Quälereien in den Tod getrieben hat, die Kindsmörderin Estelle, die Ehebrecherin Inès, deren Bettgeschichten Dritte zu Selbstmord und Mord verleitet haben.
Diese Hölle, der die drei Schuldigen nicht mehr entweichen können, wird von Regisseurin Véronique Fauconnet und Bühnenbildnerin Jeanny Kratochwil auf ungewohnte Weise inszeniert. Entgegen jeglicher Vorstellungen der Hölle tragen sämtliche Protagonisten weiße Kleidung, die Einrichtung ist auf ein paar Palmen und drei Liegestühle begrenzt. Subtiles blaues Licht vervollständigt die Pracht einer Strandszene, die jedoch – und hier lauert das Perfide – angesichts der Dialoge um Schuld und das ständige Be- und Verurteilen des Anderen zur kosmetischen Totenmaske verkommt. Auf diesem Wege reduziert die Regie Sartres These „L’enfer, c’est les autres“ auf ihr Wesentliches. Das menschliche Leben und Handeln, Ängste und Druckempfinden sind Missgeburten der ständigen Beobachtung durch andere, des ständigen Gerichtetseins. Paradiesische Kosmetik profiliert hier lediglich die Fratze des Gegenüber, der sich daraus ergebenden Hölle in uns und wird damit wieder zur Allegorie. Dieser geistige Abgrund findet seine einzige Veräußerlichung in einem Drahtzaun, der den Bühnenbereich des kleinen Théâtre Ouvert Luxembourg vom Zuschauerraum trennt. Einzig ein Diener vermag die Pforte zur ewigen Verdammnis zu öffnen.
Getragen wird dieses abgründige Drama, dem in akademischen Kreisen wohl zu Unrecht der Charakter übertheoretisierter Thesenliteratur unterstellt wird, von einem sehr engagiert spielenden Schauspielergespann. In diesem Rahmen gilt es jedoch zwischen zwei mimischen Momenten zu unterscheiden: Aktiv im Zentrum des Geschehens stehend und passiv im Hintergrund verweilend. Gerade bei Letzterem treten die Stärken eines Schauspielers zum Vorschein, dann nämlich, wenn alle Augen auf die Mitstreiter gerichtet sind. Gerade hier kommt der wohl einzige Wermutstropfen zum Vorschein, der der Vorstellung unterstellt werden kann. Guy Robert schwächelt in diesen unauffälligen Momenten und überzieht seine Mimik des Verzweifelten, Resignierenden. Zugegeben – dieser Kritikpunkt sieht nach Haarspalterei aus. Über diese Ebene hinaus wird nämlich ein jeder des Quartetts seiner Rolle gerecht: Jean-Marc Barthélemy als Page, Colette Kieffer als Estelle und Catherine Marques als Inès füllten Sartres modernen Höllenritt mit Leben. Die Spannung knistert in den Dialogpausen. Die Teichoskopie, das sehnsüchtige bis schadenfreudige Beobachten des irdischen Lebens durch die Spalten des Drahtzauns, intensivieren die Empfindung des Gefangenseins. Eiseskälte (herrlich: Catherine Marques!), Schuld und die Unausweichlichkeit des Seins im Angesicht des Anderen triefen von den niedrigen und engen Wänden des Schauspielhauses.
Dank dieser originellen Inszenierung wird die Empfindung der unerträglichen Ewigkeit greifbar. Die Erkenntnis, dass das Leben anderer auf Erden weitergeht und die Spuren des eigenen Werks entsetzlich schnell verwischen, daneben die Verinnerlichung dessen, dass die drei Verdammten zu gegenseitigen Folterknechten geworden sind, ja letztlich die subtile und doch gnadenlose Simplizität des Höllenkonzepts belebt das TOL für 90 Minuten spürbar.
Sodann wies der Page das ausverkaufte Haus nach dem Applaus zynisch daraufhin, der Weg zur geöffneten Bar führe durch den Bühnenbereich.
Huis Clos von Jean-Paul Sartre, Regie: Véronique Fauconnet, Darsteller: Jean-Marc Barthélemy, Guy Robert, Catherine Marques und Colette Kieffer; Bühne: Jeanny Kratochwil; eine Produktion des TOL; Weitere Vorstellungen am 20., 21., 25., 26. und 27. Februar jeweils um 20H30 im TOL, 143, route de Thionville, Luxemburg-Stadt; Reservierung online unter www.tol.lu oder über Telefon 49 31 66.