Krisen verängstigen die meisten Menschen, Seuchen verängstigen alle. Denn von Seuchen fühlen sich alle bedroht. Wer im Februar in der klimatisierten Chefetage den risikoscheuen Besitzstandswahrern mit dem Mindestlohn die „Chance eines disruptiven Moments“ an den Hals wünschte, erbettelt seit März bei der Regierung Subsidien zur Abwendung des disruptiven Moments der Corona-Seuche.
Schwächere Charaktere verleitet die Angst dazu, sich einer Autorität an den Hals zu werfen. Meinungsumfragen zeigen, dass in Krisenzeiten viele Regierungen steigende Wählersympathien genießen. Am 21. März trat das Parlament der Regierung einstimmig seine gesetzgeberischen Vollmachten ab. Nicht nur die CSV, auch ADR, Linke und Piraten sorgten sich mehr um ihre Gesundheit als um ihren Ruf.
Selbstverständlich nutzt die liberale Koalition die Gelegenheit nicht zum rüpelhaften Autoritarismus. Sie verwaltet 2020 die Corona-Krise mit demselben in Samt verpackten Autoritarismus, mit dem sie 2015 die „kopernikanische Wende“ des „Staatshaushalts der neuen Generation“ versuchte und 2016 den Rifkin-Bericht durchsetzte: Sie lässt in einer „Dunkelkammer“ anonyme Technokraten Entscheidungen einfädeln. Stets sind McKinsey, PWC und Konsorten dabei und die Gewerkschaften ausgeschlossen. Nach getaner
Arbeit treten dann Herr Bettel und Frau Lenert vor die Kameras, um für nachträgliche Akzeptanz in der Wählerschaft zu werben. Der Eine zeigt Verantwortung, die Andere Aufrichtigkeit. Doch „die Macht, welche die Konflikte lenkt, das Ethos von Verantwortung und Aufrichtigkeit, ist allemal autoritärer Art, eine Maske des Staates“, so Adorno.
Es gibt auch Kritiker dieser Autorität. Sie werfen der Regierung vor, den technokratischen Entscheidungen nicht genug Respekt zu zollen, nicht blind zu befolgen, wozu „die Wissenschaft“ mit ihren statistischen Hochrechnungen rät. Dieser Positivismus ist umso naiver, als die Epidemiologie wie kein anderes medizinisches Fach eine Gesellschaftswissenschaft sein muss, aber durchquantifiziert wird wie nur die Wirtschaftswissenschaften. Deshalb greift sie zu einer menschenverachtenden Terminologie von „Herdenimmunität“, „Durchseuchung“ und „Triage“. Gerade die Wissenschaft rund um die Universität Luxemburg unterwirft sich schamlos der Kommerzialisierung und dem Konkurrenzkampf des internationalen akademischen Betriebs.
So wurde für die vielen Spiegel-online-Konsumenten hierzulande das Berliner Robert-Koch-Institut zur höchsten wissenschaftlichen und damit auch politischen Autorität im Kampf gegen die Seuche. Dabei müsste das ehemalige Königlich Preußische Institut für Infektionskrankheiten ein warnendes Beispiel plumper Wissenschaftsgläubigkeit sein. Es war 1942 in Robert-Koch-Institut umbenannt worden, als es gerade im Namen der Wissenschaft KZ-Gefangene in Buchenwald mit Typhus und in Dachau mit Malaria infizierte und umbrachte.