Das Tempo, mit dem Marc Graas die Romane aus seinem Hemdsärmel zaubert, ist nachgerade atemberaubend. Auf Die Männer im Schatten von 2009 und Das Theaterstück von Norvik von 2010 folgt mit Verlassen in Pocohanac bereits der dritte Titel in drei Jahren. Dabei arbeitet Graas hauptberuflich als Psychiater und – wie der Klappentext fürwitzigen Lesern zu wissen gibt –, als „medizinischer Direktor“ in einem großen hauptstädtischen Krankenhaus. Die elende Zeit der Korrekturen und Überarbeitungen, des Lektorats und der Drucklegung mitgerechnet, kann man sich kaum vorstellen, wie ungeheuerlich zackig dieser Autor zu Werke geht! Wäre das Schreiben von Romanen ein Schnelligkeitswettbewerb, hätte er sich längst eine goldglänzende Medaille verdient. Leser würden ihm anerkennend auf die Schulter klopfen und die Schriftstellerkollegen vor Neid erbleichen und ergrünen. Nun ist das Schreiben von Romanen aber gar kein Schnelligkeitswettbewerb und das jüngste Resultat der hohen Frequenz, mit der Marc Graas seine Bücher auf den Markt wirft, ein wirklich ganz ganz schwacher, für den Leser daher überaus ärgerlicher, aber dankbarer Weise immerhin kurzer Roman, für den der Autor weder anerkennendes Schulterklopfen noch neidisches Erbleichen einheimsen wird.
Worum geht’s? Ein alter Mann sitzt seit Monaten und Jahren in einem „verlorenen Dorf in den Anden“ auf einem Stuhl und wartet vor sich hin. Worauf, weiß er selbst nicht so genau und wird es im Laufe der Erzählung auch nicht herausfinden. Es ist auch nicht so wichtig. Die Anfangsszenerie ist lediglich der Ausgangspunkt für einen von hinten her aufgerollten Erlebnisbericht dieses Mannes, ungefähr in der Art von Vorgaben, wie sie fantasielose Lehrer vermutlich immer noch für Schüleraufsätze verwenden („Ein alter Regenschirm / Hut / Mantel erzählt“).
Der Autor spart sich also die Mühe, die Erzählperspektive zu legitimieren, zum Beispiel als Niederschrift einer Lebensbeichte, und stürzt sich gleich in den Plot: Sein Protagonist hat Luxemburg als erfolgloser Maler verlassen um für einen Teppichhändler Indios übers Ohr zu hauen. Er gerät dann aber unter das Gefolge eines Guerilla-Kommandanten, ein lächerlicher, fetter Popanz, der in einem entlegenen Dschungeldorf residiert. Der Protagonist ist sozusagen als Hofmaler engagiert. Als der Kommandant ums Leben kommt, zieht der Maler mit dessen Sohn in besagtes Dorf in den Anden, wo er nach Lust und Laune malen darf, es sich aber mit dem neuen Kommandanten verscherzt und schließlich von den abwandernden Dorfbewohnern zurückgelassen wird. Irgendwann stürmen schwerbewaffnete Soldaten sein Zimmer und lachen ihn aus, weil er nicht weiß, dass er seit Jahren allein vor sich hindümpelt.
Obwohl der Plot von Verlassen in Pocohanac einigermaßen fadenscheinig wirkt, ist er nicht das größte Problem. Zwar leidet er an der Vorliebe des Autors für einen simplistischen Reihungsstil, der die Episoden der Handlung meist unvermittelt aufeinander folgen lässt, ohne die für das Verständnis nötigen Motivationen mitzuliefern. Auch ist das Setting reichlich lieblos ausgefallen: Das Leben der Indios und die terroristischen Aktivitäten des „Sendero Luminoso“, in dessen Dunstkreis die Figur gerät, stellen allenfalls eine romantisch wilde Kulisse für den Lebensverlauf des Protagonisten dar. Was für ein eigenartiger Maler aber auch! Der Erzähler ist kaum mehr als ein Naivling, der ohne Sinn für die wesentlichen Details und mit einer bestenfalls mittelmäßigen Auffassungsgabe ausgestattet durch die Anden stolpert. Wirklich bizarr wird sein Unverständnis aber erst dadurch, dass er es dem Leser gegenüber als Erklärungsnot ausgibt: Mit „übrigens“ eingeleitete Einschübe (z. B. S. 12, 14), zahlreiche Wahrheitsbeteuerungen wie „ehrlich gesagt“, „offen gesagt“, „wenn ich ganz ehrlich sein soll“ oder gar „ich schwöre es“1, lassen unnötig Zweifel an der Erzählhaltung aufkommen. Warum sollte der Erzähler unaufrichtig sein? Und wem gegenüber überhaupt?
Eine weitere stilistische Unebenheit, die alle paar Seiten ins Auge springt, ist das üppige Metapherngewucher, dem sich Graas nicht erst seit diesem Roman verschrieben hat. Zwischen Ursprungsbereich und Vergleichsebene besteht in diesen Metaphern meistens nicht das geringste Fitzelchen eines Zusammenhangs, selbst wenn die Metaphern untereinander zuweilen zusammenhängen. Der Effekt ist kurios: In seiner Beschreibung der Topografie, die sein Protagonist vom Fenster aus sehen kann, ist von einem „immergrünen Eintopf der Evolution“ die Rede, von „überkochendem Leben“, von einem Boden, der trocken ist „wie altes Brot“ und obendrein das „Aussehen eines Streuselkuchens“ aufweist, sogar von „runzligen und gegerbten“ Menschen, die „wie geräucherte Makrelen [aus]sehen“2. Wäre der Protagonist Koch statt Maler, könnte man dieser kulinarischen Bildlichkeit eventuell etwas abgewinnen.
Hinzu kommt, dass der Autor nur wenige Passagen wirklich erzählt, sondern oft längere Teile der Handlung lediglich in verallgemeinernden Berichten darüber resümiert, was sich in einer bestimmten Zeitspanne regelmäßig ereignet hat, was angesichts seines Versuchs, gut vier Jahrzehnte in rund neunzig Textseiten zu pressen, vielleicht kein Wunder ist. Eine Einsicht in die Psyche seiner Hauptfigur sowie in deren Zusammenspiel mit den anderen Figuren kann er auf diese Weise aber kaum gewähren.
Für einen Hobbyautor waren die ersten beiden Romane von Marc Graas zwar ganz annehmbar. Verlassen in Pocohanac ist aber eine schlimme Mischung aus dilettantischer Schreibe, schludrigem Lektorat und verlegerischer Gleichgültigkeit. So führt kein Weg aus der literarischen Provinz.