Lange ist es her, dass Zuschauer verwirrt vor dem Fernsehkasten sitzen und sich fragen konnten, ob die von MTV produzierte Sendung The Real World wirklich authentische Schicksale darstellte, oder ob vielleicht die Dürftigkeit einer fiktiven Handlung dadurch kaschiert werden sollte, dass die Figuren in Interviews mit einem stets unsichtbar bleibenden Fragesteller ihr Innenleben ausbreiteten. Das erzählerische Prinzip der „Reality Shows“, eben jene durch Bekennt-nisse der agierenden Personen gewonnene Perspektivierung der Handlung, regiert mittlerweile nahezu unangefochten über die Ödnis des Nachmittagsfernsehens. Die Vielfalt von Spielarten, die diese Erzählweise mittlerweile zu bieten hat, reicht von inszenierter Wirklichkeit bis hin zu den „Mockumentaries“, das heißt als Wirklichkeit inszenierte Fiktionen, von Alltagssorgen sozial benachteiligter Familien, über den täglichen Wahnsinn im Büro, bis hin zu den Wildniszoos für deklassierte Semi-Prominente. Es war sicher nur eine Frage der Zeit, bis sich diese Erzählweise in Büchern wiederfinden würde.
Bleiwen, wat mir ginn, der neue Jugendroman von Cathy Clement, folgt in seiner Erzählweise diesem Duktus der Reality Shows: In rasch wechselnder Abfolge wird die Handlung von den einzelnen Figuren erzählt, wobei die Figuren dem Leser bereitwillig ihre geheimsten Sorgen und Ängste anvertrauen, über die sie untereinander kaum zu sprechen imstande sind.
Die siebzehnjährige Catherine hat sich in Jasiri verliebt, einen jungen Mann, der ursprünglich von den Kapverdischen Inseln stammt, aber in Luxemburg aufgewachsen ist. Catherines Mutter Léonie und ihr Stiefvater Mich, ein gebürtiger Spanier, sehen die junge Liebe sehr skeptisch. Das liegt zum einen an mehr oder minder uneingestandenen rassistischen Vorurteilen, zum anderen aber auch daran, dass Jasiri ein gutes Stück älter ist als Catherine und nach und nach Eigenschaften offenbart, die vermutlich alle Eltern ungünstig stimmen würden. Er dealt mit harten Drogen und hat bereits einen Aufenthalt im Gefängnis hinter sich, er bemüht sich höchstens halbherzig um eine Arbeitsstelle, er ist zudem jähzornig und krankhaft eifersüchtig. Als Catherine schwanger wird und sich immer klarer herausstellt, dass Jasiri einem Dasein als Vater nicht gewachsen ist, nehmen die Spannungen zu.
Bleiwen, wat mir ginn liest sich flott: Das Problem, dass der Lesefluss durch Wiederholungen stocken könnte, wenn alle Figuren nacheinander ihre Sichtweise bestimmter Geschehnisse erzählen, löst Cathy Clement dadurch, dass Catherine den anderen Figuren immer ein paar Schritte voraus ist. Durch diesen Kniff kann sich der Leser auf die Sichtweise des zunächst bis zum Überschnappen verliebten Mädchens einlassen, bevor dann die nachgereichten Bedenken der Eltern diesen Überschwang relativieren. Auf diese Weise kann der Leser die Schwierigkeiten schon vorausahnen, die am Ende des Buches zu einer Katastrophe führen, die sich in der Form, wie sie die Autorin orchestriert, als eine Art Selbsttest in Sachen Rassismus und Voreingenommenheit ausnimmt. Was in Jasiri vorging, wusste am Ende niemand, nicht einmal der Leser.
Gleichzeitig ist das aber die große Schwachstelle des Buches. Einerseits beschreibt die Autorin zwar eindringlich das schwierige Gleichgewicht zwischen bigottem Vorurteil und begründetem Zweifel seitens der Eltern, andererseits aber durchdringt sie nur ansatzweise die Sichtweise des Kapverdianers. Während sich Catherine, Léonie und Mich seitenweise über ihre Gefühle und Ansichten auslassen, kommt Jasiri nur sporadisch zum Zug. Warum er es nicht schafft, pragmatischer mit den Anforderungen umzugehen, die sich mit Catherines Schwangerschaft einstellen, warum er weiter mit Drogen handelt und lieber Schulden auf Léonie und Mich abwälzen will, als vorübergehend bei seinen Eltern zu wohnen, wird eigentlich nicht deutlich. Auch bescheinigen ihm zwar am Ende alle, seine Freundin sehr geliebt zu haben, aber was die Beziehung für ihn bedeutet und wie seine Emotionen zu seiner Handlungsweise passen, deutet Clement nur in vagen Umrissen an.
Bleiwen, wat mir ginn gehört zwar zu den besseren Jugendbüchern, die in den vergangenen Monaten in Luxemburg erschienen sind, hinterlässt aber vor dem Hintergrund der Bücher, die Clement schrieb, als sie im Alter ihrer Protagonistin war, ein leicht ungutes Gefühl. Wo sie sich damals gegen die Verkitschung der Pubertät noch vehement gewehrt hat, zeichnet sie jetzt selbst das Bild einer zwar liebenswerten, aber in vielerlei Hinsicht doch reichlich simpel gestrickten Hauptfigur, deren Geschichte sie zu schnell zu Ende erzählt, um sie durch die Dramatik der Handlung – die Schwangerschaft, die Vereinbarung von Schule und Erziehung, undsoweiter –, etwas komplexer und reifer werden zu lassen. Dazu gehört auch die kindische Aufmachung des Romans: gruselige Schriftarten (auch noch als Mix), ein dümmliches Autorenpseudonym und alberne kleine Zeichnungen am Rand. Man darf der Jugend ruhig mehr zutrauen.