Zeitgenössische Kunst

Eins und Alles

d'Lëtzebuerger Land vom 26.11.2021

„Es soll sich regen, schaffend handeln, erst sich gestalten, dann verwandeln, nur scheinbar steht’s Momente still.“ Zeilen von Johann Wolfgang von Goethe über das War, Sein und Werden, über den ständigen Fortschritt im Leben – und auch darüber, dass nichts so ist, wie es zu sein scheint, denn bereits im nächsten Moment kann es zu einer Metamorphose kommen, zu einer vollständigen Verwandlung. Dieser lyrischen Beschreibung des philosophischen Motivs Panta Rhei – „Alles fließt“ – setzt die Luxemburger Künstlerin Vera Kox mit ihrem Werk einen Kontrapunkt entgegen: „Alles zerfließt“. Derzeit zu sehen mit ihrer ersten institutionellen Einzelschau … into deliquescene im Reutlinger Kunstverein. Übersetzt werden kann der poetische Titel mit „… im Zerfließen“ oder „in Verflüssigung“.

Die in Reutlingen ausgestellten Werke sind ein Rückgriff auf die Kindheit von Vera Kox. Sie basieren auf ihren Erinnerungen an den industriellen Abbau von Eisenerz und dessen Verhüttung im Süden Luxemburgs. Das Gestein zerfloss zu Eisen, verändert Form und Funktion. Aber auch ihre Beobachtungen von aktuellen ökologischen Maßnahmen zur Dämmung von Fassaden in den Straßen von Berlin brachten die Künstlerin zu einer skulpturalen Auseinandersetzung mit den direkten und indirekten, den offensichtlichen und den scheinbaren Ein- und Auswirkungen des menschengemachten Seins auf seine natürliche Umgebung. Formung, Umformung und Überformung führen Kox zu einem Spiel mit den Aggregatszuständen, die sie Momenten des Zerfließens, der Verflüssigung, des Wandels einfängt und festbrennt, so dem Moment den echohaften Impetus der Ewigkeit verleiht. Es ist ein Verharren im Augenblick, im Augenblick der Auflösung verfestigter Strukturen, Texturen und der Definition des Materials über seinen eigentlichen Zweck hinaus. Muss also eine Polsterfolie immer eine Polsterfolie bleiben? Kann eine Dämmplatte Sinnbild eines Widerspruchs sein? Kox führt die Ausstellungsbesucher zu ihrer Antwort auf diese Fragen. Es sind flüchtige, nicht ausflüchtige Antworten.

Denn Vera Kox lässt die eigentliche Bestimmung des Materials zerfließen, entfremdet so den vorbestimmten Zweck und spielt dabei mit der Wahrnehmung der Betrachter/innen, die wissen möchten, ob es tatsächlich jene alltägliche, nahezu absolut profan kunstferne Polsterfolie ist, die Kox gerne als Vorlage verwendet, und die mancheiner in nervösen Momenten gerne verpuffen und zerknallen lässt. Wie ist es dann möglich, aus dieser Folie solche Beständigkeit – als Antipode zum Moment des Zerfließens und Verpuffens – zu schaffen? Kox spielt mit eingeübten Wahrnehmungen und Assoziationen zu Materialien. Sie täuscht bei deren Eigenschaften. Nur dem äußeren Anschein nach erinnert etwa eine Skulptur in der Reutlinger Schau an weiches, biegsames, schmiegsames, elastisches Gummi. Tatsächlich handelt es sich um Keramik. Hart. Fest. Schwer. Nur die Hitze im Prozess der Herstellung ist dem äußeren Schein und dem tatsächlichen Material noch gemeinsam. Symbolisiert durch die Farbe Schwarz. Doch selbst diese scheint nicht dauerhaft zu sein. Helle Flächen scheinen durch, verdeutlichen das Verblasen, eine weitere Genese von Materialien. Nichts ist für die Ewigkeit.

Bei der Betrachtung der Ausstellung und der inneren Auseinandersetzung mit den Zuschreibungen von Definition, Form und Funktion an Materialien wie Gummi oder Dämmplatten gelangt man zu einem weiteren Kernpunkt im Werk von Vera Kox. Denn indem sie Definition, Form und Funktionalität aufhebt, schafft sie hier eine Metapher auf die heutige Zeit, in der Zuschreibungen ihren Ewigkeitsanspruch verlieren und so zerfließen, sich verflüssigen. Doch Kox geht in ihrer Diskussion mit den Betrachter/innen noch einen Schritt weiter. Sie möchte nicht nur die distanzierte und theoretische Auseinandersetzung aus verschiedenen Blickwinkeln, sondern lädt zum Berühren und Ertasten ein: „Meine Arbeiten sollen zum Anfassen anregen. Ein Begreifen, das auch ein Verstehen beinhaltet“, erklärt die Künstlerin.

Aber Vera Kox bezieht auch Position. Indem sie sich mit dem Eigenleben des verwendeten Materials sowie dessen sozialen, ökonomischen und ökologischen Lesarten und Effekten beschäftigt, nähert sie sich dem so genannten Symbiozän. Dies ist ein Begriff aus der aktuellen ökologischen Forschung, der eine neue Verwebung von Materialien, Objekten, der Menschheit und Umwelt bedingt, eine in die Zukunft gerichtete Vernetzung, eine Symbiose von Mensch, Natur und Technologie fordert. Auch dieses Symbiozän ist eine Statusmeldung des Zerfließens von festgeformten Materialien, Definitionen und Bedeutungen, des Übergangs in eine neue Ära. Es gelingt der Künstlerin auf unnachahmliche Weise, diesen Status in seine augenblicklichen Einzelteile zu zerlegen und skulptural zu fassen.

Und auch bei den von ihr verwendeten Materialien verlässt Kox die rein darstellende Position. Etwa bei Dämmplatten. Diese hat Vera Kox an einigen Stellen mit Feuer bearbeitet. Sie wirken unästhetisch, hässlich. Kox möchte so deutlich machen, dass sich der umweltfreundliche Gedanke, nach dem Dämmplatten zum Energiesparen eingesetzt werden, sich nicht mit den umweltschädlichen Eigenschaften dieser Materialien vereinen lässt. Diesen Widerspruch bezieht sie in die künstlerische Überhöhung eines profanen Werkstoffes ein, indem sie ihn nahezu verflüssigt. Oder ihn, einer Metamorphose gleich, Häutungen unterzieht, indem die überkommene sichtbare Schicht zurückgewiesen, wenn nicht sogar entfernt wird, um darunter die Einzigartigkeit des Augenblicks des Zerfließens zu offenbaren. In Reutlingen bleibt der Eindruck haften, dass dieser Moment betörend eindrucksvoll ist.

Vera Kox: … into deliquescence. Noch bis zum 23. Januar 2022 im Kunstverein Reutlingen, Eberhardstraße 14, Reutlingen. Eintritt frei

Martin Theobald
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