Noch immer sitzt Jean-Claude Juncker im Büro des Premierministers zwischen über alle Tische, Stühle und Fensterbänke verteilten Bergen von Fotokopien, Berichten und Zeitungsausrissen. Bei seinem Amtsantritt vor 18 Jahren hatte er sich öffentlich beschwert, dass er sich jede Viertelstunde aus nächster Nähe das Glockengeläute der Kathedrale anhören musste. Der neue CSV-Premier wollte damals zeigen, dass er kein „Paf“ der alten Schule sei.
Als der damals 40-Jährige 1995 Premierminister Jacques Santer ablöste, begeisterte er weit über die eigenen Reihen hinaus viele für die angekündigte „Zäsur“, neue „Streitkultur“ und das Ende des „Konsensualismus“ im CSV-Staat. Doch zwei Jahrzehnte später scheint er sich nicht nur mit dem Glockengeläute abgefunden zu haben. Heute sind die Rollen vertauscht, versprechen die anderen Parteien den „Neuanfang“ und machen ihn zum Verteidiger der alten Ordnung.
Die CSV ist in die Defensive gedrängt und reagiert regressiv. Sie gibt sich wieder bodenständiger, konservativer, als Parti de l’Ordre, einziges Bollwerk gegen die Ungewissheit nach dem 20. Oktober. Um so mehr, als es ihr nicht gelungen war, den versprochenen „séchere Wee“ einzuhalten, wie das wachsende Staatsdefizit, das Ende der Tripartite, die chaotischen Sparpakete und Steuererhöhungen, das Ende des Bankgeheimnisses und schließlich der hysterisch gewordene Geheimdienst zeigten. Um möglichst viele Wähler in der umkämpften Mitte anzusprechen, muss sie zudem widersprüchliche Signale aussenden: Sie beruhigt die konservative Wählerschaft mit ihrer Ablehnung des Ausländerwahlrechts bei Kammerwahlen und gibt sich gleichzeitig aufgeklärt, wenn sie den Religionsunterricht in den Sekundarschulen abschaffen will.
Nachdem sie mit ihrem Vorschlag eines gedeckelten Index Schiffbruch erlitten hat, verspricht die CSV nun als Alleinstellungsmerkmal im Wahlkampf ein „doppeltes System“ der Körperschaftssteuer: Die Steuerberater dürfen für jede Firma ausrechnen, ob ein Steuersatz unter 20 Prozent ohne Abschreibungsmöglichkeiten oder der gegenwärtige Satz von 21 Prozent mit Abschreibungsmöglichkeiten billiger wird. Jean-Claude Juncker will die Gefahr einer solchen Regelung für die Steuergerechtigkeit und die Rechtssicherheit nicht ausschließen. Deshalb sollen die Unternehmen ihre Besteuerung nicht von Jahr zu Jahr ändern dürfen, sondern müssten sich mit der Steuerverwaltung auf eine mehrjährige Regelung einigen. Um die Berechenbarkeit der Staatseinnahmen macht er sich keine größeren Sorgen: Sie sei auch heute mit den unzähligen Abschreibungsmöglichkeiten nicht unbedingt gegeben. Dass es „keine einfache Reform“ würde, dessen ist er sich aber sicher.
Jean-Claude Juncker bleibt der einzige Star der Luxemburger Politik. Wenn er müde lächelnd für zwei Stunden am CSV-Stand auf der hauptstädtischen Braderie Jutesäcke mit Apfelsinen verteilen muss, scharen sich die Schaulistigen um ihn und halten den Augenblick mit Handyfotos fest, als ob er ein Schleck-Bruder zu den besten Zeiten wäre.
Der heute 58-Jährige verbrachte nach seinem Jurastudium sein ganzes Leben als Berufspolitiker: zuerst als Fraktionssekretär, dann als Staatssekretär, Arbeits- und Finanzminister und schließlich Premierminister. In den Zeiten der Hochkonjunktur verkörperte er eine Modernisierung und Liberalisierung der CSV, eine Anpassung an die gesellschaftliche Entwicklung, die viele und vielleicht sie selbst sich nicht zugetraut hatte. Die ehemalige Rechtspartei wollte, wie alle anderen auch, eine Partei der Mitte sein, der damalige Generalsekretär Jean-Louis Schiltz hatte sie 2002 sogar beinahe zu einer Linkspartei, jedenfalls zu einer „Volkspartei der fortschrittlichen Mitte“ erklärt. Juncker kam gerade rechtzeitig, um den Rückgang der Partei zu stoppen, die ab 1989 Stimmen verlor; ohne ihn wäre sie heute vielleicht eine Partei wie all die anderen. Selbst dass er 2009 vergebens auf den Koffern saß, um dem Land den Rücken zu kehren und erster ständiger Vorsitzender des Europäischen Rats zu werden, bekam er verziehen.
Weil die politische Opposition und selbst der ungeduldige Nachwuchs in den eigenen Reihen kein Kraut gegen den „Juncker-Bonus“ der CSV gewachsen sahen, witterte er von Anfang an ein Komplott hinter der Geheimdienstaffäre, die schließlich zu seinem Sturz und vorgezogenen Wahlen führte. Bei einer Pressekonferenz am6. Dezember 2012 hatte er sich gefragt, wer Interesse daran gehabt habe, die Affäre gerade jetzt auffliegen zu lassen, das hieß zu Beginn des Wahlkampfs und des Bommeleeërten-Prozesses. Auf dem Parteitag am 9. März 2013 hatte Parteipräsident Michel Wolter gewarnt, dass „insbesondere der Staatsminister angegriffen“ werden solle, und Parallelen zu der von ihm als Inszenierung der DP dargestellten Affäre Wickringen-Livingen zog.
Doch er habe „weder Zeit, noch Lust“, um sich den Kopf über die Drahtzieher und ihre Beweggründe zu zerbrechen, meint der Premier heute. Das sei alles schwierig zu belegen, und ihm würde sowieso gleich vorgehalten, bloß ablenken zu wollen. „Aber ich glaube nicht an Zufälle. Man kann sich schwer vorstellen, dass das alles einfach so kam.“
Am 13. Juni, während der Debatte über das politische Schicksal von Finanzminister Luc Frieden, hatte Jean-Claude Juncker angekündigt: „Ich laufe vor meiner Verantwortung in dieser Sache nicht fort. Und wenn es so weit ist, dann stelle ich mich dieser Verantwortung.“ Dass er einen Monat später versucht habe, sich herauszureden, lässt er nicht gelten: Verantwortung zu übernehmen, heiße, „zu Fehlern zu stehen, wenn man welche begangen hat, Fehlentwicklungen zu stoppen, dafür zu sorgen, dass sie sich nicht wiederholen können“. Leute, die glauben, politische Verantwortung zu übernehmen, komme „der Vorankündigung eines Rücktritts“ gleich, hätten ihm nicht genau zugehört.
Die Wahlen in einem Monat handeln aber nicht von Geheimdienstkomplotten, sondern von den Möglichkeiten eines neuen Luxemburger Modells, eines neuen Regulationsregimes der Wirtschaft und Gesellschaft nach der großen Krise. Den Eindruck, dass schon lange keine Regierung in Unternehmerkreisen so verhasst gewesen sei wie die bisherige CSV/LSAP-Koalition, will Jean-Claude Juncker schon ab und zu gewonnen haben, insbesondere wenn er Veröffentlichungen von Unternehmerverbänden las. Auffällig ist auch, dass Führungsleute des Unternehmervereins 5 vir 12 bei LSAP, DP und Grünen kandidieren, aber auf den CSV-Listen fehlen. Ohne alle Vereinsmitglieder in einen Topf werfen zu wollen, hat Jean-Claude Juncker dafür eine knappe Erklärung: „Weil für neoliberale Politik fünf nach zwölf ist.“
Der Premier verkennt keineswegs die Bedeutung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit. Er habe sich beispielsweise immer gegen eine gesetzliche Arbeitszeitverkürzung gesperrt, so dass Luxemburg zu den Ländern mit der längsten Arbeitszeit gehöre und nicht mit den Folgen der 35-Stundewoche zu kämpfen habe. Seit 20 Jahren sei er für eine moderate Lohnpolitik eingetreten, obwohl Produktivität nur ein relativer Wert sei. In der „Bipartite“ seien den Unternehmern bedeutende Erleichterungen gewährt worden, und nach der großen Tagung über die zur Chefsache erklärte Verkürzung der Verwaltungswege hätten sie sich im Frühjahr ausgesprochen zufrieden gezeigt. Das geplante Omnibusgesetz zur Umsetzung all dieser Maßnahmen sei aber nun durch die vorgezogenen Wahlen in Verzug geraten.
Doch Reformen wie in Deutschland, wo sieben Millionen Menschen für einen Stundenlohn von 8,40 Euro arbeiteten und Hundertausende Vollzeitbeschäftigte am Ende des Monats auf Sozialhilfe angewiesen seien, seien mit ihm nicht zu machen: „Ich kann das nicht, ich will das nicht.“ Verbände, die eine Übernahme des Modells Deutschland, des Haupthandelspartners, fordern, weist er ab: „Ich bin nicht ihr Mann. Aber ich bin sicher, dass sie Männer dafür finden.“ Ein wenig traurig stimme es ihn aber schon, dass seine sozialpolitischen Überzeugungen heute als verstaubt angesehen würden: „Doch es war schon immer modern, modern zu sein.“ Obwohl in Deutschland SPD und Grüne die Agenda 2010 durchsetzten, verdächtigt er auch eine Dreierkoalition nicht, den „neoliberalen Durchmarsch“ zu planen. Aber ihre tatsächlichen wirtschafts- und sozialpolitischen Differenzen würden LSAP, DP und Grüne wohl erst während des Regierens entdecken.
Die CSV ist sicher, dass sie am 20. Oktober nur Stimmen verlieren kann. Denn seit der Krisenwahl 2009 hatte sie doppelt so viele Mandate wie die zweitstärkste Partei. Sie bereitet also das Land und sich selbst schon heute darauf vor, dass sie am 20. Oktober jeden kleinen Verlust sofort in einen Sieg umdeuten will.