Dass DP-Präsident Xavier Bettel im Lëtzebuerger Land meinte, Étienne Schneider sei ein Sozialliberaler, der genauso gut Mitglied der DP sein könnte, empfindet der Betroffene nicht als ehrenrührig, wenn er im 12. Stockwerk des Wirtschaftsministeriums am Boulevard Royal sitzt. Dort, wo er noch am Vortag ausländische Investoren und Unternehmensberater empfangen hat. Auch bestreitet er, dass die seit Jahrzehnten an ihrer sozialistischen, sozialdemokratischen oder welcher Identität auch immer zweifelnde Arbeiterpartei links von ihrem Spitzenkandidat stehe. Zum Beweis führt er die seltene Einmütigkeit an, mit der die Partei ihn im Juli zum Spitzenkandidaten wählte und diese Woche ihr Wahlprogramm verabschiedete.
Doch ganz gleich, ob der zunächst vom Tageblatt abgelehnte Wirtschaftsminister dem OGBL oder der Fedil näher steht: Dass Schneiders Spitzenkandidatur seiner ganzen Partei einen Adrenalinschub verpasste, spürt man auf jedem Landes- und Bezirkskongress. Einst hatte der ehemalige Fraktionssekretär und Kayler Schöffe in der Partei eher den Ruf des Verwaltungsratsposten sammelnden Apparatschiks. Doch heute ist er Balsam auf der Seele all der treuen Mitglieder, die während Jahren bedauerten, dass ihre Minister und Abgeordneten an ihren Sesseln klebten; die befürchteten, dass ihre hilflos wie Prometheus an die CSV geschmiedete Partei bei den für Mai nächsten Jahres geplanten Wahlen wieder Stimmen verlieren werde, wieder die Zeche für Steuererhöhungen und Indexmanipulation zahlen werde.
Wofür seine Genossen Schneider am meisten schätzen, ist das Ende der Bescheidenheit und Unterwürfigkeit eines „Juniorpartners“, das er verkörpert. Selbst Kandidaten anderer Parteien reden mit einer Mischung aus Neid und Bewunderung von der Unverfrorenheit, mit der Schneider das Denkmal Jean-Claude Juncker vom Sockel stürzen will und das Amt des Regierungschefs beansprucht. Nachdem die Partei während Jahren Wahlprogramme verfasste, die sich schon wie Kompromisse für ein Koalitionsprogramm mit der CSV lasen, atmete der ganze Kongress am Montag in Mamer befreit auf, als Präsident Alex Bodry erklärte, wie gut das Land auf CSV-Minister verzichten könne, und Schneider aus dem Wahlprogramm zitierte, dass die Trennung von Kirche und Staat vollzogen werden soll. So stolz waren viele Sozialisten schon lange nicht mehr auf ihre Partei.
Was die LSAP in den vergangenen Monaten – aus schierer Angst vor einer Wahlkatastrophe nächstes Jahr – fertig gebracht hat, hatten viele Mitglieder ihr gar nicht mehr zugetraut: Zuerst kündigte sie die Koalition mit der CSV auf, dann zauberte sie einen unverbrauchten Spitzenkandidaten aus dem Hut. Dass das möglich wurde, geht auch auf Ex-Wirtschaftsminister Jeannot Krecké zurück, der im November 2011, und auf Vizepremier Jean Asselborn, der im Juli dieses Jahres dem Neuen den Weg frei machte.
Dass Étienne Schneider nun einen neuen Politikstil für nötig hält, erklärt er auch damit, dass er sich von Jean-Claude Juncker zutiefst „persönlich enttäuscht“ fühlt: Nachdem der Premier noch im Juni angekündigt habe, seine Verantwortung für den Geheimdienstskandal zu übernehmen, habe die LSAP ihm als ehrenvollen Ausweg einen geschlossenen Rücktritt der gesamten Regierung angeboten, auch wenn die Sozialisten sich keiner Mitverantwortung bewusst gewesen seien. In der Kabinettsitzung wenige Stunden vor der entscheidenden Kammersitzung am 10. Juli hätten die LSAP-Minister Juncker sogar den Entwurf ihrer Motion vorgelegt, doch der habe den Satz über seine Verantwortung kompromisslos abgelehnt. Selbst als Schneider ihm vorgeschlagen habe, diesen Satz selbst zu formulieren, habe Juncker nicht nachgegeben. Stattdessen sei er vor dem Parlament in die Rolle des Märtyrers geschlüpft und habe die LSAP des Verrats bezichtigt.
Als Antwort auf diesen Verlust der Vertrauensbasis in der Regierung und die „alleine von CSV-Ministern verantworteten“ Skandale, den Verschleiß durch über 30 Jahre CSV und fast 20 Jahre Juncker, schwebt Étienne Schneider „eine andere Art vor, Politik zu machen“: Er will die Mandatszeit der Minister begrenzen, denn „auch in der Privatwirtschaft hat man nach zehn Jahren seine besten Eier gelegt“. Außerdem würde so der politische Nachwuchs in den Parteien gefördert. Denn nach Meinung des Quereinsteigers und Senkrechtstarters Schneider sei es niemandem mehr zuzumuten, „30 Jahre lang Dorffeste zu besuchen und Bratwurst zu essen, um einmal ins Parlament gewählt zu werden“. Notwendig sei auch, die ausländischen Einwohner durch die Zuerkennung des Wahlrechts an der Gestaltung der Staatsgeschäfte zu beteiligen.
Mit Étienne Schneider setzt die jahrzehntealte Regierungspartei auf die grassierende politische Veralzheimerung und verkleidet sich kurz vor den Wahlen als Oppositionspartei. Dabei gibt es in diesem Land mehr als eine Generation Wähler, die kaum etwas anderes kennen als CSV/LSAP-Koalitionen, für die der nun viel kritisierte CSV-Staat auch ein CSV/LSAP-Staat ist. Wenn nun das Wahlprogramm der LSAP heftige Kritik an einst stolz von LSAP-Ministern und -Abgeordneten mitgetragenen Politikbereichen der vergangenen Jahrzehnte übt, liest sich das auch ein wenig wie das „droit d’inventaire“, das seinerzeit der französische Präsidentschaftskandidat Lionel Jospin für die Zeit François Mitterrands beanspruchte. Auch wenn Étienne Schneider schnell betont, dass die LSAP-Minister mutig ihre Arbeit, von der Renten- bis zur Bildungsreform, gemacht hätten, während die einzige Reform eines CSV-Ministers während der zu Ende gegangenen Legislaturperiode diejenige des öffentlichen Dienstes gewesen sei – und nicht einmal die sei Gesetz geworden. Das Gehälterabkommen will die LSAP übrigens nach den Wahlen stimmen, weil sie „sich an ihre Abmachungen hält und für die vielen geplanten Reformen im Staat motivierte Beamte nötig sind“.
Die LSAP hatte schon 1999 einmal mit einem von Schneiders Vorgängern, dem ehemaligen Wirtschaftsminister Robert Goebbels, versucht, einen als liberalen Modernisierer geltenden Spitzenkandidaten der „LS@P“ aufzustellen und landete in der Opposition. Étienne Schneider will nicht beurteilen, was damals falsch gelaufen war, aber „vielleicht war die Zeit noch nicht reif. Heute sind die Notwendigkeit von Veränderung und der Ruf nach einem Wechsel weitaus größer“.
Deshalb warnt der bisherige Wirtschaftsminister auch: „Man soll nicht mit den Ängsten der Leute spielen, wie es jetzt bereits auf verschiedenen CSV-Plakaten geschieht. Nach fünf Jahren Krise zu versprechen, dass in einer globalisierten Welt hierzulande alles so bleiben kann, wie es ist, führt dazu, dass wir in den nächsten fünf Jahren gegen die Mauer rennen – und nicht bloß gegen die Rentenmauer.“
Aber ein wenig versprechen auch Étienne Schneider und die LSAP Gattopardismo, alles zu ändern, zu modernisieren, zu rationalisieren, damit alles bleibt, wie es ist. „Wir müssen wieder wettbewerbsfähiger werden, um mehr Wirtschaftswachstum zu erzielen und so mit wieder steigenden Staatseinnahmen den Sozialstaat zu erhalten“, fasst er seine Strategie zusammen. Die Rolle des sich bescheidener entwickelnden Finanzplatzes sollen in Zukunft drei auch in einem Hochlohnland rentable Hightech-Branchen und als vierte die Logistik zur Beschäftigung weniger qualifizierter Arbeitskräfte übernehmen. Für die Wettbewerbsfähigkeit sei vor allem die Vereinfachung der Verwaltungsprozeduren nötig: „Ich fühlte mich da in den letzten Jahren als Rufer in der Wüste. Selbst seit der Premier die Verwaltungsreform zur Chefsache erklärt hat, ist kaum etwas erfolgt.“
Dabei seien eine solche Reform und stabile soziale Verhältnisse viel wichtiger als der Index: „In all den Jahren, in denen ich als Generaldirektor und dann als Wirtschaftsminister ausländischen Investoren gegenübersaß, hat kein einziger sich am Index gestört oder ihn überhaupt nur erwähnt.“ Der Erhalt des Indexsystems sei aber nicht nur wichtig für den sozialen Frieden, sondern auch für jene Hälfte der Beschäftigten, die ohne Kollektivvertrag nie eine Lohnerhöhung erhalten würden. Andernfalls bekämen wir, wie in anderen Ländern, eine Zweiklassengesellschaft mit verkommenden Stadtvierteln, in die sich bald kein Außenstehender mehr hineintraue.
Ob diese colbertistische Rechnung aufgeht, ist nicht sicher. Denn vor fünf Jahren stürzte das vom Finanzkapital getriebene neoliberale Regulationsregime in die Krise, die EU-Politik erklärt sozialdemokratische Politik schrittweise für gesetzwidrig, und die Exportindustrie will die Lohnstückkosten auf das Niveau des Haupthandelspartners Deutschland senken, wo eine rot-grüne Koalition die Binnennachfrage und den Sozialstaat der Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt opferte.
So droht das am Montag verabschiedete LSAP-Wahlprogramm im zweiten Kapitel zwecks Steuergerechtigkeit und gesunder Staatfinanzen dem Kapital und den Reichen mit höheren Steuern und verspricht ihnen im dritten Kapitel zwecks Wettbewerbsfähigkeit und Anlockung von Expats niedrigere Steuern. „Wir müssen bei der Betriebsbesteuerung die Bemessungsgrundlage ausweiten, um den in internationalen Statistiken angeführten Steuersatz senken zu können“, versucht Étienne Schneider das zu erklären.
Selbstverständlich stellt sich die Frage, mit wem Étienne Schneider „die Fenster“ des verstaubten CSV-Staats „weit aufstoßen“ will, um Gesellschaft, Wirtschaft und Staat zu reformieren. „Ich will keinen Wahlkampf gegen jemand führen. Aber ich stehe nicht für eine reformunwillige Koalition zur Verfügung, selbst wenn meine Partei beschlösse, eine solche einzugehen. Ich kann noch andere Sachen im Leben tun.“ Dass ein Reformprogramm mit der CSV möglich ist, will er nicht ausschließen. Doch „eine Dreierkoalition von LSAP, DP und Grünen kann eine gute Alternative sein. Es ist ja schon positiv, wenn die Wähler heute eine solche Koalition als eine realistische Möglichkeit ansehen. Oder wie Alex Bodry am Montag sagte: Dass niemand mehr den Untergang des Großherzogtums befürchtet, wenn Jean-Marie Halsdorf, Octavie Modert und Françoise Hetto nicht mehr Minister sind“.