„Die Einkommen der Mitglieder des Verwaltungsrates und des Aufsichtsrates von Arbed zuzüglich desjenigen des Generaldirektors, ohne die Dividenden der in dem Besitz derselben befindlichen Aktien, beliefen sich im dem letzten Jahre auf 840 000 Franken. Die Gesamtsumme der Gehälter des Bischofs, sämtlicher Pfarrer und Vikare des Landes zusammengenommen, beträgt nur 565 000 Franken, also mehr denn ein Drittel weniger.“ So fasste der Anwalt Pierre Prüm Ende 1912 vor Gericht die politische Auseinandersetzung in der Geburtsstunde der Arbed in zwei Sätzen zusammen.
Die Gründung der Arbed war das Resultat eines wirtschaftlichen Konzen[-]trationsprozesses, der nötig wurde, weil der technische Fortschritt in keiner Industrie die Investition größerer Kapitalmassen als in der Schwerindustrie nötig machte. Um den gesamten Produktionsprozess, von den Bergwerken über die Hochöfen und Stahlwerke bis zu den Walzwerken, von der Erzgewinnung über die Verhüttung bis zum Endprodukt, kon[-]trollieren zu können, fu[-]sio[-]nier[-]ten im Oktober 1911, am Ende des „langen 19. Jahrhunderts“, die Hüttengesellschaften von Burbach, Eich und Düdelingen. Die neue Gesellschaft Arbed entstand aber auch an der Schwelle vom liberalen 19. Jahrhundert zum klerikalen 20. Jahrhundert, vom Zensuswahlrecht zum allgemeinen Wahlrecht und stand gleich selbst im Mittelpunkt dieses politischen Machtkampfs.
In Zeiten, als nur rund 20 000 wohlhabendere Steuerzahler wahlberechtigt waren, lag die politische Macht noch im Parlament. Deshalb gehörten von den zwölf Verwaltungsratsmitgliedern der Arbed gleich vier der Abgeordnetenkammer an, der Eicher Anwalt Auguste Laval, der Schmelzherr Norbert Le Gallais aus Luxemburg, der Anwalt Adolphe Schmit aus Luxemburg und der Escher Schmelzherr Léon Metz. Zusammen mit weiteren Abgeordneten, wie Edmond Muller, dem Sohn, und Maurice Pescatore, dem Schwiegersohn anderer Arbed-Verwaltungsratsmitglieder, hatte die Arbed gleich bei ihrer Gründung Fraktionsstärke im Parlament. Die politischen Parteien waren dagegen erst im Entstehen.
Seit den Teilwahlen von 1908 gehörten die Schmelzherren in der Kammer dem Linksblock an, einer Allianz aus liberalen, weitgehend großbürgerlichen Notabeln und den ersten, kleinbürgerlichen Sozia[-]listen. Was die Stahlbarone und die Arbeiterfreunde einte, war der Versuch, die Klerikalen von der Macht fernzuhalten, der alte Gegensatz der industriellen Revolution zwischen Stadt und Land, zwischen Industrie und Landwirtschaft. Symbol dieses Machtkampfs war während Jahren der Streit um das Schulgesetz, den Versuch, wenn nicht Kirche und Staat, so doch wenigstens Kirche und Schule zu trennen. Die Schmelzherren mischten in diesem Kampf vor allem indirekt mit, mit den von ihnen unterstützten Zeitungen, der zweimal täglich erscheinenden Luxemburger Zeitung und der sich an Intellektuelle richtenden linksliberalen Neuen Zeit.
In die andere große Auseinandersetzung der Legislaturperiode, um die Konzessionsvergabe für die letzten im Staatsbesitz befindlichen Erzvorkommen des Landes, waren die Abgeordneten der Arbed dagegen direkt verwickelt. Und das war die Stunde der vom Luxemburger Wort unterstützten katholischen Rechten und vor allem ihres Anführers, [-]Emile Prüm, die eine einmalige Gelegenheit sahen, Rache zu nehmen und den Linksblock zu schwächen oder gar zu spalten.
Sechs Wochen nach der Gründung der Arbed teilte die Regierung am 14. Dezember 1911 der Kammer mit, dass sie sich mit den Schmelzherren auf die Konzessionen für die Minette-Bergwerke geeinigt hatte. Mit den Einnahmen sollte der Staat den Ausbau des Schienen- und Straßennetzes finanzieren. Doch im belgischen Avenir du Luxembourg hatte der klerikale Emile Prüm, selbst Fabrikherr in Clerf, vor einem politischen Komplott von Schmelzherren und Sozialisten gewarnt, um die Minenkonzessionen konkurrenzlos und damit unter ihrem Wert zu verschachern. Den Sozialisten warf er vor, sich an das Großkapital verkauft zu haben, um Verbündete im Kampf gegen die Kirche zu gewinnen, die mit Minenkonzessionen belohnt werden sollten.
Selbst Bischof Jean Joseph Koppes warf 1913 auf dem Katholikentag in Metz den Schmelzherren vor: „Während vorne der Schulkampf tobte, suchten sie hinten, sich die Taschen zu füllen.“ Das Luxemburger Wort mobilisierte einen ehemaligen Direktor der Düdelinger Schmelz, Jean Meyer, um in Zeitungsbeiträgen und Broschüren vorzurechnen, dass die Regierung die Konzessionen unter ihrem Wert vergeben und damit auf Millionen Staatseinnahmen verzichten wollte, die sie den Stahlfirmen schenke. Die Abgeordneten aus dem Verwaltungsrat der Arbed mussten sich vorwerfen lassen, Richter und Partei zu sein, wenn das Parlament über die Konzessionen beriet, um die die Arbed sich bewarb.
Als Emile Prüm sogar den deutschen Konkurrenten Thyssen überredet hatte, das Angebot für die Luxemburger Erzgruben zu überbieten, hatte er sich die politischen Gegner endgültig zu unversöhnlichen Feinden gemacht. Die Auseinandersetzung wurde dem Einsatz entsprechend mit einer in der Parlamentsgeschichte seltenen Vehemenz geführt. Der sozialistische Abgeordneten Michel Welter beschimpfte Prüm immer wieder wegen dessen damals einen Straftatbestand darstellenden Homosexualität, der Felser Indus[-]trielle Nicolas Ludovicy verhöhnte den Anführer der Klerikalen zweideutig als „Afterkatholiken“. In der Parlamentssitzung vom 19. Dezember 1911 zog Prüm einen Knüppel unter seinem Stuhl hervor und schlug damit auf sein Pult, als Welter ihn einen Lügner nannte; nach einer Sitzungsunterbrechung ging Welter auf Prüm los, der ihn mit einem Stuhl bedrohte, bis andere Abgeordnete dazwischen eilten.
Unter dem politischen Druck der Rechten und der Konkurrenz der Bieter erhöhte de Regierung die jährlichen Konzessionsgebühren pro Hektar von ursprünglich 900 auf schließlich 2 025 bis 2 725 Franken. Die Arbed fühlte sich gezwungen, ihr Angebot zurückzuziehen, weil ihr der neue Preis zu hoch erschien und um das Ansehen ihrer im Parlament vertretenen Verwaltungsratsmitglieder zu schützen. Die[-]se gewannen in zwei Instanzen einen Presseprozess gegen Emile Prüm, der im Luxemburger Wort behauptet hatte, die Arbed habe sich nur zurückgezogen, um die Bergwerke über Strohmänner zu erwerben. Das Luxemburger Wort organisierte umgehend eine Subskription zur Deckung der Prozesskosten.
Emile Prüm rühmte sich zwar, mit seinem Kampf gegen den Linksblock der Staatskasse Millionen Mehreinahmen beschert zu haben, doch am 29. März 1913 musste er seinen Rücktritt einreichen. Einen Monate später wurde sein Sohn Pierre Prüm zu seinem Nachfolger gewählt, er schmiss in einer seiner ersten Sitzungen mit einem Tintenfass nach Welter.
Ein Jahr später ging das 19. Jahrhundert endgütlig im Ersten Weltkrieg unter. Mit dem nach dem Krieg durchgesetzten allgemeinen Wahlrecht endete die Herrschaft der liberalen Notabeln und damit auch der Stahlbarone und Arbed-Verwaltungsratsmitglieder im Parlament. Doch unter den Bedingungen des allgemeinen Wahlrechts verlagerte sich die politische Macht sowieso vom Parlament in die Regierung. Das Volk wählte vielfach rechts und legte damit den Grundstein des im 20. Jahrhundert dominierenden CSV-Staats.
Aber der Konzentrationsprozess in der Stahlindustrie hat bis heute nicht aufgehört, die Arbed wurde zum nationalen Monopolunternehmen und verfügte durch ihr schieres wirtschaftliches Gewicht über ganz andere Mittel der politischen Einflussnahme als die Stimmen einiger Abgeordneter im Parlament oder die Bezuschussung einiger Zeitungen.
Zumindest bis zur großen Krise 1975, die auch den politischen Einfluss der Arbed schwächte. Im Übernahmekampf zwischen Mittal und Arcelor 2006 wurde die Regierung vorübergehend verdächtigt, ein Doppelspiel zu spielen. Und durch eine Pirouette der Geschichte sitzen 100 Jahre nach der Gründung der Gesellschaft keine liberalen Verwaltungsratsmitglieder der Arbed mehr im Parlament, sondern der sozialistische Wirtschaftsminister Jeannot Krecké im Verwaltungsrat von Arcelor-Mittal. Michel Welter hätte das wohl Linksblock genannt.